ZFS Nr. 2/2024
Ein Beitrag von Prof. Dr. Iwan Rickenbacher1
1. Einleitung
Nicht selten ist der Vorwurf zu hören, dass der Einfluss der Medien auf politische Entscheidungen erheblich sei, dass Medienschaffende aus diesem Grund ihre politischen Präferenzen in ihre Berichterstattung einbrächten und damit die Entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger wesentlich beeinflussten.
So soll sogar Bundesrat Ignazio Cassis in einer Wahlkampfrede 2023 ausgesagt haben, keine Zeitungen mehr zu lesen, da sie nicht gut seien für ihn und nicht helfen würden, «die Energie zu finden, um die richtigen Dinge zu tun». Ist es wirklich so, dass in der heutigen Medienwelt politische Orientierung erschwert oder gar behindert wird?
2. Die Medienwelt
Die Geschichte der modernen Massenmedien beginnt im frühen 17. Jh. Mit den ersten Zeitungen, deren Herausgeber einer staatlichen Bewilligung bedurften und deren Tun mit obrigkeitlichem Misstrauen begegnet wurde. Daran hat sich offensichtlich bis heute nicht viel verändert.
Die Zeitung machte den Boten, den früheren Überbringer der Nachricht, nicht überflüssig. 1809, mit der Erfindung des Telegraphen aber wird die Nachricht schneller als der Mensch und erreicht jeden, der über die entsprechenden Geräte verfügt. Ab 1870 und dem ersten Telefon wird diese Übermittlung individuell. Dann folgen die audio-visuellen Applikationen eines neuen Kommunikationssystems, das keine geografischen, sozialen, gesellschaftliche Grenzen mehr kennt.
3. Die Reaktion der Politik
Die Mächtigen wussten sich schnell der neuen Systeme und ihrer Möglichkeiten zu bedienen. Mitte der 60er Jahre wurden in der Schweiz 370 politische Zeitungen vertrieben, von denen 237 offizielle Parteiorgane waren.2 In den sechziger und siebziger Jahren, im Zuge der Lockerung der Bindungen der meisten Bürgerinnen und Bürgern zu Institutionen, zu Kirchen, zu Vereinen, erfolgte auch die Entkoppelung der Printmedien von politischen Bewegungen und Parteien. Sie begannen sich nach eigenen Marktprinzipien auszurichten.
Die Entkoppelung der Medien von politischen Bewegungen bekamen vorab die bürgerlichen politischen Parteien zu spüren, gehörten doch vorgängig die meisten Zeitungen ihrem Lager an. Die Behauptung, Medienschaffende in den unterdessen recht unabhängig gewordenen Zeitungen, Zeitschriften und elektronischen Medien seien eher linkslastig, dürfte u.a. hier eine Ursache haben.
Politische Parteien mussten sich auf neue Gegebenheiten einstellen, ihr politisches Handeln auf die Gesetzmässigkeiten des Mediensystems ausrichten. Diese neuen Gesetzmässigkeiten werden bestimmt (1) durch die Professionalisierung des Medienschaffens von der Nachrichtenbeschaffung bis zu Nachrichtengestaltung, (2) durch die Kommerzialisierung der Medienwelt und damit der Ausrichtung auf Dramatisierung, Personalisierung und Konfrontation im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und (3) durch die Technologisierung in der Medienwelt, in der zum Teil die bisherigen Konsumenten zu Produzenten von Medieninhalten werden.3
4. Politische Entscheidungsfindung in der neuen Medienwelt
These I: Die entscheidenden Einflussfaktoren der Meinungsbildung bei Wahlen und Sachabstimmungen sind zu differenzieren;
These II: Bei Sachabstimmungen spielt der Grad des Regierungsvertrauens für die Meinungsbildung eine entscheidende Rolle.
Zur Disposition steht offensichtlich die politische Kommunikationsorientierung der Bürgerinnen und der Bürger und augenfällig ist, dass sich die mediale Aufmerksamkeit von den Parlamenten weg zu den Exekutiven und zu einzelnen Persönlichkeiten des politischen Lebens verschiebt, vorab, wenn sie über ihre politischen Aussagen und Handlungen polarisieren. Zu meinen, Medien und Meinungsträger allein würden die politische Meinungsbildung bestimmen, wäre aber verkürzt. Claude Longchamp und sein Nachfolger Lukas Golder vom gfs-Institut Bern und ihr Team haben mit dem sogenannten Dispositionsansatz einen Rahmen gesetzt, mit dem politische Entscheidungsprozesse erklärt werden können.
Zu unterscheiden ist zunächst die Meinungsbildung bei Wahlen, bzw. bei Volksabstimmungen. Bei Wahlen bildet die Nähe zu einer Partei nach wie vor eine wichtige Basis für die Wahlentscheidung. Bei Volksabstimmungen üben gemäss den gfs-Studien Thematische und allgemeine Prädispositionen der Stimmenden eine entscheidende Rolle aus, sowohl für ihre Bereitschaft, sich an der Abstimmung zu beteiligen wie auch für die Entscheidung selbst. Thematische Prädisposition sind die persönliche Betroffenheit und Interessenlage gegenüber einer Vorlage, frühere Sachentscheidungen bei vergleichbaren Vorlagen, Alltagserfahrungen mit dem Thema. Allgemeine Prädispositionen sind der Zufriedenheitsgrad gegenüber dem Status Quo, Grad des Regierungsvertrauens, Identifikation mit Parteiparolen zur Sachvorlage, Weltanschauliche Grundhaltungen.
5. Der Einfluss der medialen Berichterstattung
These III: Die durch die Staatsleitung mitgeführte Diskussion um eine konkrete Problemlösung im Abstimmungskampf übersteuert bei Volksinitiativen meist eine positive Prädisposition.
Mit dem Dispositionsansatz wird der Einfluss der Medien auf die Entscheidungsbildung der Bürgerinnen und Bürger nicht negiert, aber etwas relativiert. Wer ein Kind mit einer Behinderung im familiären Rahmen betreut, wird eine Vorlage zur staatlichen Unterstützung von Betreuungsleistungen anders beurteilen als Nichtbetroffene. Wer im beruflichen Alltag von den Auswirkungen der Klimaveränderung direkt betroffen ist, wird diese Erfahrung in die politische Entscheidung einfliessen lassen. Die persönliche Betroffenheit und Interessenlage der Stimmenden wird durch Lebensereignisse gesteuert, die sich der medialen Beeinflussung weitgehend entziehen.
Aber nach wie vor spielen bei der Entscheidung das allgemeine, auch medial gesteuerte politische Klima, die in den Medien dokumentierten Konfliktmuster meinungsbildender Eliten, die Intensität des primär in den Medien ausgetragenen Abstimmungskampfes sowohl für die Mobilisierung der Stimmenden wie auch für ihre Entscheidung eine wichtige Rolle.
So können sich praktisch alle Volksinitiativen mit ihrem Anliegen auf eine positive Prädisposition stützen, sonst kämen die erforderlichen Unterschriften nicht zustande. Die Diskussion der konkreten Problemlösung im Abstimmungskampf und damit in den Medien bringt dann oft eine Diskrepanz zur prädisponierten Lösungspräferenz hervor, sodass die meisten Volksinitiativen scheitern.
6. Was wir nicht wissen
These IV: Die Identifikation mit glaubwürdigen Personen und Institutionen wird für die Staatsleitung im sich wandelnden Umfeld in Zukunft von noch grösserer Bedeutung sein.
Da es schwierig ist, die Informationswelt der Zukunft zu beschreiben, lohnt sich ein Blick in die bisherige Entwicklung der digitalen Welt. 1995 ist das Geburtsjahr der Digitalisierung. Bisher analoge Tätigkeiten wurden digitalisiert, von eLearning, über eBooking bis eCommerce. Zehn Jahre später 2005 mit Web 2.0 hatten digitale Neugeburten wie Tags oder RSS Feeds ihren Ursprung nicht mehr im Analogen. 2015 begann die Vernetzung alles Systeme, der Beginn von Social Media. Und jetzt, wieder 10 Jahre später erleben wir die Verknüpfung der realen mit der digitalen Welt zu Virtual Reality und gleichzeitig deren Entkoppelung mit künstlicher Intelligenz.
Eines steht fest, vielen Menschen wird es unmöglich sein, im Verlauf ihres Lebens alle diese Entwicklungen mit zu vollziehen geschweige denn zu verstehen. Misstrauen wird sich einstellen, gegenüber Einschätzungen und Prognosen, die digital erarbeitet und gestützt sind, vorab, wenn deren Urheberinnen und Urheber nicht erkannt sind. Vielleicht ist dies der Beginn einer neuen Aufwertung gelebter, bewiesener, bewährter Leistungen von Personen, von Institutionen, deren Glaubwürdigkeit zur Nachfolge einlädt.
Prädispositionen, in den eigenen Lebenserwartungen verankert und Identifikation mit glaubwürdigen Personen und Institutionen werden möglicherweise im politischen Entscheidungsprozess noch nachhaltiger wirken.
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1 IWAN RICKENBACHER (1943), Prof. Dr. phil., Brunnen (SZ), Kommunikationsfachmann und Erziehungswissenschafter, Direktor des Lehrseminars des Kantons Schwyz (1975 bis 1988), Generalsekretär der CVP Schweiz (1989 bis 1993), ab 1994 Kommunikationsberater, ab 2000 Honorarprofessor für Politikwissenschaften an der Universität Bern. Verwaltungsrat der TA Media (1996-2018), Präsident des Stiftungsrats des Medien-Ausbildungs-Zentrums MAZ (Luzern, 2004-2015). Werke: Politische Kommunikation, Bern 1995; zusammen mit FRANZ MARTY, Politik im Blut, Brunnen 2021.
2 ANDREAS LADNER, Die Parteien in der politischen Kommunikation, in: Patrick Donges, Hrsg: Politische Kommunikation in der Schweiz, Bern 2005.
3 Siehe u.a. FRANK ESSER, Mediatization as a challenge, in: KRIESI H. et al., Democracy in the age of globalization and mediatization, London 2013.