ZFS Nr. 9/2024
Ein Beitrag von Dr. Dr. h.c. Peter Maurer1
1. These I: Bei der Staatsleitung im Sinne von Gouvernanz geht es vor allem um die Strukturierung von Willensbildung, Entscheidfindung und Rechenschaftspflichten («accountability») in den politischen Institutionen.
Der Begriff der Staatsleitung kann als spezifisch schweizerisch-deutsche Begrifflichkeit für den international gängigeren Begriff der Gouvernanz verstanden werden. Der Vorteil der spezifischen Terminologie ist die Einbettung der schweizerischen Debatte in die historische Entwicklung des Landes und seiner Institutionen. Der Vorteil des generellen Begriffes liegt in seiner Vergleichbarkeit mit institutionellen Entwicklungen in andern Ländern und der Möglichkeit, Zusammenhänge zwischen öffentlichen Gouvernanzfragen und dem Themenkomplex «corporate governance» aufzuzeichnen.
Bei beiden Konzepten geht es aber um
- die Strukturierung von Willensbildung und Entscheidfindung in den politischen Institutionen;
- somit um die Frage, wie konsultiert, geführt, entschieden, wieder-erwogen und allenfalls justiziell beurteilt wird?
- die Vorbereitung und Begleitung von Verhandlungen, welche eine Angleichung von aussen- und innenpolitischen Perspektiven benötigen;
- die Regierungsführung im engeren Sinne und die Frage, wie «accountability» organisiert ist;
- im weiteren Sinne also, um die Frage, wie die Verwirklichung und Entwick-lung des Staatszweckes konkretisiert wird und wie Spannungen zwischen Zielen und Werten in konkreten Sachentscheiden geregelt werden – und
- schliesslich um die Frage, wie formelle und informelle Regeln (z.B. Kolle-gialität, Konsens) ineinandergreifen.
Auch in aussenpolitischen Fragen, wo informelle und formelle Prozesse eng ineinander greifen, muss Staatsleitung immer auch informelle Prozesse im Auge behalten.
2. These II: Staatsleitung im stark partizipativen Prozess der schweizerischen Demokratie muss besonders in den Aussenbeziehungen «vom Ende des Entscheid-Prozesses» her konzipiert werden.
Traditionell ist Staatsleitung/Gouvernanz im Bereich der Aussenbeziehun-gen eng mit der Entwicklung des Nationalstaates verbunden. In vielen Län-dern hat die lange Tradition der «Souveränität des Monarchen» zu einer Konzentration aussenpolitischer Kompetenzen beim Präsidenten und der Regierung geführt. In der Schweiz wurden durch das Staatsvertragsreferendum und die Bedeutung der grenzüber-schreitenden Zusammenarbeit früher als anderswo Parlament und Kantone in aussenpolitische Entscheid Prozesse einbezogen. Die Kompetenzregelung der neuen Bundesverfas-sung zeugt von dieser Entwicklung.
Besonders ausgeprägt ist in dem Sinne die Notwendigkeit, aussenpoliti-sche Orientierung und Entscheide «vom Ende her zur denken», d.h., so zu strukturieren, dass alle Akteure, die am Schluss entscheiden, von Anfang an in die Konsultationsprozesse einbezogen werden. Wenn dieser Grund-satz missachtet wird, drohen schwer überbrückbare Divergenzen zwischen Innen- und Aussenpolitik.
Innenpolitische Spannungen zu aussenpolitischen Fragen lassen sich meist zurückführen auf unzureichende Konsultationen in internationalen Verhandlungs-prozessen, oder unterschiedliche Einschätzungen bezüglich innenpolitischer Sensibilitäten zu aussenpolitischen Fragen. Während Konsultation und Kooperation im Normalfall zur Annäherung von Positionen führen, gibt es auch politische Divergenzen, welche nicht reduzierbar sind und auf Grenzen hinweisen, mit institutionellen Mechanismen politische Unterschiede zu überbrücken (typischerweise im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU etwa).
3. These III: Die Reichweite der staatlichen Gouvernanz in der Aussenpolitik ist durch die internationale Entwicklung und die technologische Transformation von Gesellschaften unter Druck geraten.
Die Staatsleitung/Gouvernanz im Bereich der Aussenpolitik ist seit einiger Zeit durch die internationale Entwicklung und die technologische Transformation von Gesellschaften unter Druck geraten. Die Herausbildung transnationaler Beziehungen im Laufe derer sich gesellschaftliche, wirtschaftliche und sogar individuelle Akteure ausserhalb von Staaten organisieren und kooperieren, stellen Reichweite und Wirkung staatlicher Gouvernanz in Frage. Die internationalen Organisationen sind ihrerseits nur unzureichend ausgerüstet, mit der Transnationalisierung der Politik umzugehen, und bleiben oft in ihren inter-gouvernementalen Mechanismen gefangen.
Grosse Herausforderungen sind heute oft nur durch eine Vielzahl von Akteuren zu bewältigen; die Art und Weise wie legitime Entscheide gefällt werden, bleibt aber oft umstritten, weil entsprechende Gouvernanzsysteme (Internationale Organisationen, Allianzen, ad hoc Plattformen etc.) fehlen, zu schwach sind, oder fachlich als nicht ausreichend professionell und politisch als nicht ausreichend legitim angesehen werden.
Die technologische Entwicklung hat zudem das kommunikative Umfeld grundsätzlich verändert und Entwicklungen beschleunigt. Entscheide zu wichtigen gesellschaftlichen Problemen werden damit oft ausserhalb traditioneller Institutionen, Organe und Mechanismen vorberietet und massgeblich beeinflusst – selbst wenn Staaten wichtige Entscheid Kompetenzen behalten.
4. These IV: In Staatsleitungsfragen hat sich bezüglich der Aussenpolitik in den letzten Jahren eine ganze «Produktepalette» von Aktivitäten entwickelt, welche auch innenpolitische Prozesse massgeblich beeinflussen.
Im Bereich der schweizerischen Staatsleitung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine reiche Praxis der Konsultation, Kooperation und Entscheidfindung entwickelt. Staatsleitungsfragen ergeben sich auf der ganzen «Produktepalette» der Aussenpolitik, d.h., bei
- der Definition von Prinzipien und Konzepten (Neutralität, Solidarität, gute Dienste);
- der Führung von Verhandlungen und dem Abschluss internationaler Verträge und Rechtsvereinbarungen;
- beim Beitritt zu und der Mitwirkung in internationalen oder supranationalen Organisationen;
- bei der Gestaltung bilateraler Beziehungen;
- bei politisch-diplomatischen Positionen, soft-law Vereinbarungen, Resolutionen etc.
- bei der Definition strategischer Ausrichtungen;
- bei öffentlichen Positionen zu Fragen der internationalen Beziehungen;
- bei der gesetzlichen Verankerung von «regelmässigen und wiederkehrenden» aussenpolitischen Aktivitäten. (Beispiel: Entwicklungshilfe, humanitäre Hilfe, zivile Friedensförderung und internationale Menschenrechtspolitik);
- beim Engagement der Schweiz als Sitzstaat internationaler Konferenzen und Institutionen.
In der Praxis können verschiedene Konstellationen unterschieden werden:
- Die Teilnahme an inter-gouvernementalen Kooperationen und Institutionen, welche nicht in die Kompetenzordnung des Landes eingreifen und politisch auf einem breiten Konsens beruhen. (Beispiel: die Vielzahl von Resolutionen und Kooperationen im Rahmen des UNO-Systems und anderer inter-gouvernementaler Organisationen).
- Die Teilnahme an inter-gouvernementalen Kooperationen und Institutionen ohne Einfluss auf die innerstaatliche Kompetenzordnung, aber mit erheblichen finanziellen Folgen (Weltbank, Spezialorganisationen etc.) und /oder politischen Neuorientierungen des internationalen Umfeldes. (Pandemievertrag, Migrationspakt).
- Kooperationen mit Auswirkungen auf die innenpolitische Kompetenzordnung und der Notwendigkeit legislativer Anpassungen (Beispiel: «Bilaterale III»).
- Wenig regulierte Bereiche mit noch verhältnismässig wenig strukturierter Kompetenzordnung und volatiler innen- und aussenpolitischer Orientierung (Beispiel: Cybersecurity mit fliessenden Grenzen zwischen privaten und öffentlichen, zentralen und dezentralen Ansätzen).
- Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kontext zunehmender Vernetzung und Digitalisierung von Verwaltung und Politik und die Entstehung flexibler politischer Räume und Kooperationsformen (Netzwerke, Städte, Regionen).
Neben den verfassungsmässigen und juristisch festgelegten Verfahren der Entscheidfindung ist immer wieder auf die Bedeutung informeller persönlicher Kontakte, Netzwerke, Zusammenarbeitsforen etc. hinzuweisen, welche oft entscheidend sind für das gute Funktionieren der Institutionen. Als Grundregel gilt: Je mehr Vertrauen zwischen den Akteuren und je dichter und substanzieller die Beziehungen zwischen Innen- und Aussenbeziehungen, desto weniger Regulierungsbedarf. Je grösser die systemisch bedingte Unübersichtlichkeit, desto wichtiger ist es, politisch-strategisch zielgerichtet zu arbeiten.
5. These V: je nach Akteur, Standpunkt, Verfahren und Ressourcenallokation entwickeln Staatsleitungsfragen in den internationalen Beziehungen sehr unterschiedliche Dynamiken.
Gouvernanzfragen in den internationalen Beziehungen entwickeln sehr unterschiedliche Dynamiken je nachdem ob wir
- im Bereich der staatlichen Interessen, der Interessenharmonisierung und damit der inter-gouvernementalen Zusammenarbeit sind, oder
- ob wir von der Gouvernanz/Leitung von Organisationen mit einem internationalen Mandat der Staatengemeinschaft sprechen (UNO, IKRK, UNHCR, UNICEF) oder gar von Aspekten der Supranationalität (EU; teilweise UN Sicherheitsrat);
- oder ob wir von der Gouvernanz/Leitung wichtiger Themenbereiche sprechen (Klima, Gesundheit, Korruption etc.).
Je nach Konstellation gibt es sehr unterschiedliche Akteure, Entscheid Prozesse und Verfahren der Entscheidfindung und der Ressourcenallokation.
6. These VI: Die Staatsleitung in aussenpolitischen Fragen unterliegt besonders vielfältigen Spannungsfeldern
Staatsleitung /Gouvernanzfragen sind heute mit einer Serie von wiederkehrenden Spannungsfeldern und Dilemmas konfrontiert, welche nicht einfach aufgelöst werden können, sondern bestmöglich gesteuert werden müssen.
Es handelt sich etwa um Spannungsfelder
- zwischen der Förderung nationaler Interessen und der notwendigen Zusammenarbeit für internationale Problemlösungen und damit um die Prioritätensetzung zwischen internationalen Kooperationsvereinbarungen und nationalen Interessen;
- zwischen Verfassung, Rechtsordnung und Prinzipien einerseits und den Machtrealitäten und «double Standards» der internationalen Politik anderseits;
- zwischen der professionell definierten Vernetzung von Staaten über bürokratische Expertise einerseits und der Aussenpolitik anderseits, welche durch Interessen und Machtrealitäten bestimmt ist;
- zwischen nationalen Entscheid Kompetenzen und Entwicklungen und internationalen Dynamiken (Schaffung internationaler Mehrheiten, Allianzen, Kompromissen);
- zwischen dem Diskretionsbedürfnissen der Diplomatie mit dem Ziel allerseits akzeptabel Lösungen zu verhandeln, und dem Transparenzbedürfnis der Demokratie;
- zwischen fruchtbarer Kompetition und notwendiger Kooperation.
Hinweis: Zur Zitierfähigkeit wird auf dieses Dokument verwiesen ZFS_Nr9_Maurer (PDF, 52 KB)
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1 PETER MAURER (1956), ab 2000 Botschafter im EDA, von 2004 bis 2010 Chef der Schweizer Ständigen Mission bei den UN, ab 2010 Staatssekretär in der Politischen Direktion des EDA, ab 1. Juli 2012 bis Ende September 2022 Präsident des IKRK, danach Vorsitzender des Basel Institute on Governance und Senior Fellow am Geneva Graduate Institute.