ZFS Nr. 10/2025
Ein Beitrag von Patrick Hofstetter1
1 Ausgangslage
In der Schweiz hat sich die Armee durch die Beibehaltung der Wehrpflicht eine gewisse visuelle und diskursive Öffentlichkeitspräsenz bewahrt. Deutlich wird dies durch eine Vielzahl uniformierter Personen an Bahnhöfen. Subtiler kommt es zum Vorschein, wenn zu Projektbeginn eine Auslegeordnung vorgenommen, eine Kaderfunktion ausgeschrieben oder ganz allgemein vom Milizsys-tem in Politik und Gesellschaft gesprochen wird. Ganz selbstverständlich wird aber auch bei den Personalien der National- und Ständeräte der militärische Grad genannt oder der nicht vorhande-ne Grad ausgewiesen.2
Es stellt keinen Helvetismus dar, wenn Unternehmen und Verwaltungen Stäbe kennen oder sich in Divisionen und Abteilungen gliedern. Gerade im Englischen wird deutlich, dass die zivilen Organisationsformen aus dem Militär stammen – die Company und der Chief Executive Officer zeugen davon. Die ausgeprägte Verflechtung unternehmerischer, politischer und militärischer Tätigkeit im 20. Jahrhundert kann hingegen durchaus als Schweizer Spezifikum bezeichnet werden. Doch wie es Finanz und Wirtschaft schreibt: «die Uno-Formel – Unternehmer, Nationalrat, Oberst – ist passé.»3 Inwieweit dies Ausdruck eines gesellschaftlichen Wandels ist, sei dahingestellt. Fakt ist: Der Effektivbestand der Armee ist von 811'099 Armeeangehörigen im Jahr 1989 um 81.9% auf 146'974 im Jahr 2024 zurückgegangen, bei einem gleichzeitigen Bevölkerungswachstum von 35.6%. Dies und die deutliche Erhöhung der Beschäftigungsquote der Frauen, die zwar zunehmend, aber immer noch selten Militärdienst leisten, dürfte jedenfalls massgeblich zum Bedeutungsverlust militärischer Führungserfahrung in Wirtschaft und Verwaltung beigetragen haben.
Werden Vorgesetzte oder Mitarbeitende heute auf militärische Führung angesprochen, so lassen sich die Reaktionen im Allgemeinen entlang von zwei Dimensionen gliedern: zum einen variiert das Werturteil von bedingungsloser Begeisterung bis zu entsetzter Entgeisterung. Zum andern liegen diesen Wertungen unterschiedlichste Erfahrungsstände von entscheidenden biographischen Prägungen bis hin zum schlichten Fehlen jeglicher persönlichen Berührungspunkte zugrunde – ein Wissensvakuum, das dann zuweilen von Hollywoodbildern gefüllt wird. Es scheint daher angebracht, ein differenziertes Bild zu zeichnen.4 Hierzu soll der restliche Artikel wie folgt gegliedert sein. In Kapitel 2 wird das Leadership-Modell der Armee erläutert. Darauf aufbauend werden in Kapitel 3 Thesen zu den Unterschieden zur Führung in nicht-militärischen Kontexten und Organisationen entwickelt. Kapitel 4 leitet daraus Thesen zum Mehrwert der militärischen Führungsausbildung in der Staatsleitung ab und Kapitel 5 schliesst mit einem Fazit und praktischen Hinweisen.
2 Das Leadership-Verständnis der Armee
Mit dem Dienstreglement, nota bene eine Verordnung des Schweizerischen Bundesrats, legt dieser «die allgemeinen Grundsätze für Führung, Ausbildung und Erziehung sowie Dienstbetrieb» fest.5 Während die Ausführungen zum Dienstbetrieb eher trivial-pragmatischen Charakter aufweisen, die den militärischen Alltag regeln, wirken die Ausführungen zu Führung, Ausbildung und Erziehung durchaus gehaltvoll, wie die folgenden Ausschnitte verdeutlichen. Aus der Einleitung zum 3. Kapitel Führung:
[…] Befehl und Gehorsam sind der deutlichste Ausdruck der militärischen Führung. Führung umfasst aber, auch im Ernstfall, sehr viel mehr als die Befehlsgebung. Wer führt, muss Ziele bestimmen, Entschlüsse fassen und Aufträge erteilen. […] [Führende] müssen motivieren, Konflikte vermeiden oder schlichten und für das Wohl ihrer Unterstellten sorgen. Auf allen Stufen sind das Recht und die Pflicht zu führen mit Verantwortung gepaart.
Auch aufseiten der Unterstellten ist mehr gefordert als Gehorsam. […]
In der Armee sind alle Vorgesetzten zugleich auch Unterstellte. Wer Befehlskompetenz hat, ist seinerseits zu Gehorsam verpflichtet. Das gilt selbst für den General, der dem Parlament und dem Bundesrat verantwortlich ist. […]
In den Verbänden der Armee finden sich Bürger und Bürgerinnen verschiedener Herkunft, verschiedenen Alters und mit verschiedener Ausbildung, verschiedenen Lebensgewohnheiten und Interessen. Was sie zusammenführt, ist der gemeinsame Auftrag. Diesen zu erfüllen gelingt aber nur, wenn sich die einzelnen im Blick auf den Auftrag zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen.
Bereits in der ersten Woche der Unteroffiziersschule, also der frühestmöglichen militärischen Führungsausbildung, werden dem Begriff der Führung die zusätzlichen Begriffe Ausbildung und Erziehung beigestellt. In der Einleitung des zugehörigen 4. Kapitels lesen wir:
Militärische Ausbildung und Erziehung haben das Ziel, die Angehörigen der Armee auf den Krieg und auf die Bewältigung anderer Krisensituationen vorzubereiten. Ausbildung und Erziehung wirken in der Regel zusammen. Die Ausbildung zielt auf das Erreichen von Fähigkeiten und Fertigkeiten ab. Die Erziehung nimmt Einfluss auf das Verhalten und auf Werthaltungen.
Die Ausbildung und die Erziehung müssen Kader und Truppe in die Lage versetzen, auch unter schwerer Belastung Dienst zu leisten. Die Anforderungen sind deshalb hoch. Gelegentlich müssen sie bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit gesteigert werden. […]
Militärische Ausbildung und Erziehung sind auch Erwachsenenbildung. Sie beruhen auf der gegenseitigen Achtung von Ausbildern und Auszubildenden. […]
Militärisches und ziviles Können ergänzen sich gegenseitig. Unsere Milizarmee stützt sich oft auf zivil erworbene Fähigkeiten ihrer Angehörigen; umgekehrt profitieren viele in ihrer zivilen Tätigkeit von Erfahrungen und Kenntnissen aus dem Militärdienst.
Wie in allen Lebensbereichen werden die Buchstaben der Verordnung mit Worten des Lebens gefüllt. Der im letztzitierten Absatz erwähnte Transfer führt auch dazu, dass zivile Debatten ihren Niederschlag in der Armee finden. Wenn z. B. der Gegensatz von Leadership und Management in Wissenschaft6 und Praxis7 diskutiert wird, stellen sich auch militärische Kader diese Fragen. Gleichzeitig führt die Armee seit jeher lebhafte Binnendebatten, die eine – wenn auch spezifisch interessierte – Öffentlichkeit erreichen. So hatte sich etwa der Unternehmer, Nationalrat und Oberst Christoph Blocher in den 1990er-Jahren in die Debatte «Auftragszentrierte vs. Menschenorientierte Führung» eingebracht.
Um die Vorgaben des Bundesrates mit den aktuellen zivilen und militärischen Debatten zu vereinen und damit letztlich die Weiterentwicklung der Führung in der Armee zu fördern, hat die Armeeführung am 27.03.2024 das sogenannte Referenzmodell für Führung, Erziehung und Ausbildung als Grundlage für die Aus- und Weiterbildung verabschiedet. Das Modell wurde an der Militärakademie an der ETH Zürich entwickelt und 2023 erstmals in einem Thesenpapier8 festgehalten. In der am 23.01.2025 vom Chef der Armee, Korpskommandant Thomas Süssli vorgestellten Strategie zur Vision 2030 der Gruppe Verteidigung,9 dem sogenannten «Grünen Buch», ist es als «Leadership-Modell» prominent verankert und soll bis 2030 für die Armee und die Gruppe Verteidigung etabliert werden.10
Aus dem Anspruch und der Entstehungsgeschichte des Modells ergibt sich, dass es keineswegs ein neues Führungsverständnis darstellt. Vielmehr fasst es bestehende Debatten konzeptionell zusammen und trägt damit zu deren Schärfung bei. Dazu lässt sich das Modell, von innen nach aussen gelesen, wie folgt aufschlüsseln (vgl. Abb. 1):
Das Modell überführt zunächst den zivilen Gegensatz «Leadership vs. Management» und das militärische Begriffspaar «Auftrag vs. Mensch» in die drei Dimensionen der Ausrichtung «Auftrag / Mensch / Organisation», die sich in den drei Führungsaspekten «Command / Leadership / Management» widerspiegeln. Danach projiziert es die aus dem Dienstreglement bekannten Begriffe Erziehung und Ausbildung auf die gleichen Dimensionen. Schliesslich ordnet es die in verwandten Debatten häufig genannten Begriffe «Doktrin / Kultur / Strukturen und Prozesse» den Dimensionen zu und bestimmt für die entsprechenden Herausforderungen und Ansätze jeweils Begriffe.
Um die Anwendung des Modells zu erleichtern, sind die drei Dimensionen in charakteristischen Farben dargestellt. So können z. B. überdurchschnittliche grüne Kompetenzen einer Kandidatin hervorgehoben, eine Herausforderung als rot charakterisiert oder ein Ausbildungsprogramm als blau-lastig kritisiert werden. In diesem Sinne sollen im folgenden Kapitel die grünen, roten und blauen Aspekte der militärischen Führung in Abgrenzung zu nichtmilitärischen Kontexten reflektiert werden.
3 Der Vergleich militärischer und nicht-militärischer Führungsformen
Der Vergleich erfolgt getrennt nach den genannten Ausrichtungen «Auftrag», «Mensch» und «Organisation». Der Fokus liegt jeweils auf der eigentlichen Führung. Die damit verflochtenen Ausbildungs- und Erziehungsfragen werden in anschliessenden Unterabschnitten gesondert behandelt.
3.1 Command als auftragszentrierte Führung
Die zentrale Rolle des Auftrags geht mehrfach aus dem Dienstreglement hervor:11
Führen im Militär heisst deshalb insbesondere: den einzelnen dazu bringen, seine ganze Kraft für die gemeinsame Erfüllung des Auftrags einzusetzen, im Ernstfall auch unter Einsatz des Lebens.
Dieser Priorisierung des Auftrags werden jedoch gleichzeitig Grenzen gesetzt:12
Der Vorgesetzte ist für das Wohl und den Schutz seiner Unterstellten verantwortlich. Er setzt sie nicht unnötig Risiken und Gefahren aus.
Es folgen weitere Einschränkungen, etwa die Pflicht der Vorgesetzte, sich für das Wohl der Unterstellten einzusetzen und oder das Verbot von Befehlen, die darauf abzielen die Menschenwürde zu verletzen.13
Ungeachtet dieser Auflagen scheint es naheliegend, in dieser Priorisierung des Auftrags gegenüber dem Menschen einen grundlegenden Unterschied zwischen militärischer und ziviler Führung zu erkennen. Bei näherer Betrachtung wird jedoch sichtbar, dass diese Unterschiede nur gradueller Natur sind. Sämtliche Instanzen des Bevölkerungsschutzes, der sich in der Schweiz aus Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Gesundheitswesen und technischen Diensten zusammensetzt, setzen ihr Personal im Bedarfsfall Risiken aus, um ihre Aufträge zu erfüllen. Auch die Privatwirtschaft kennt entsprechende Abwägungen – eine Entlassung aus wirtschaftlichen Gründen ist ein deutliches Beispiel. Auch wenn hier kein «Einsatz des Lebens» gefordert ist, kann der Interessenkonflikt zwischen wirtschaftlichem Auftrag und Mensch zu Ungunsten des letzteren aufgelöst werden.
Es sei an dieser Stelle nicht weiter ausgearbeitet, ob der wesentliche Unterschied zwischen militärischer und ziviler Führung wohl eher in der Transparenz und im Bewusstsein im Umgang mit solchen Konflikten besteht. Für den Zweck der vorliegenden Überlegungen reicht die weniger weit reichende
These 1: Die auftragszentrierte Führung (Command) in der Armee unterscheidet sich in ihrer Priorisierung nur graduell von den Verhältnissen ausserhalb der Armee.
Für den auftragszentrierten Aspekt der Führung verwendet die Schweizer Armee den in Klammern gesetzte Begriff Command. Dies erfolgt in Abgrenzung zu den bekannteren Begriffen Leadership und Management. Dieses Dreieck lehnt sich an die UK Leadership Doctrine14 an, definiert die Begriffe jedoch unterschiedlich.15
3.2 Leadership als menschenorientierte Führung
Der Begriff «menschenorientierte Führung» wurde durch Prof. Dr. Rudolf Steiger, den nachmaligen Kommandanten der Militärakademie, eingebracht.16 Seine Ausführungen lösten in den 1990er Jahren die weiter oben erwähnten Grundsatzdebatten aus.17 Längst ist jedoch etabliert, dass menschenorientierte Führung keinen Widerspruch zur auftragszentrierten Führung darstellt, sondern gemeinsam mit letzterer die notwendige Spannung erzeugt, um die Komplexität von Führungsaufgaben zu fassen.
Ein militärisches Beispiel soll dieses Spannungsfeld verdeutlichen. Ein Infanteriebataillon verfügt über rund 850 Angehörige, darunter ein Aufklärungszug mit rund 20 Soldaten, dessen Auftrag es ist, Nachrichten über den Gegner zu beschaffen. Ein solcher Auftrag bedingt, diesen Zug entsprechend zu exponieren. Ein Bataillonskommandant, der diesen Einsatz befiehlt, ohne zu berücksichtigen, dass es sich um ihm anvertraute Männer und Frauen handelt, verletzt seine ganzheitliche Verantwortung. Verzichtet er jedoch aus falscher Rücksichtnahme auf den Aufklärungseinsatz, wird er das Leben der restlichen Männer und Frauen – jene des Aufklärungszugs inklusive – gefährden. Die entsprechende Spannung kann nicht aufgelöst, sie muss ausgehalten werden.
Damit gilt für die Leadership letztlich dasselbe wie für das Command im vorangehenden Kapitel. Auch im zivilen Kontext steht die menschenorientierte Führung in einem Spannungsverhältnis zum Auftrag einer Gruppe oder einer Organisation. Diese Spannungen nicht aufzulösen, sondern auszuhalten – und damit als Richtschnur für die eigene Führung zu verwenden – macht letztlich Führung inner- und ausserhalb der Armee aus. Damit folgt
These 2: Das Spannungsverhältnis zwischen menschenorientierter Führung oder Leadership besteht innerhalb und ausserhalb der Armee gleichermassen, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Deutlichkeit.
In jeder Situation sind Spannungen von neuem zu erkennen, zu bewerten und zu beantworten; die ideale Lösung oder gar Auflösung gibt es nicht. Deshalb ist es dann auch weniger das Wissen, wie Spannungen anzugehen sind, und mehr die Übung, mit ihnen umzugehen, welche den Transfernutzen der Leadership-Erfahrung in beiden Welten ausmacht.
3.3 Management als organisationsbasierte Führung
In der Populärliteratur steht Management für den Teil der Führung, der sich in der Gestaltung von Strukturen und der Anwendung von Prozessen manifestiert. Es ist diese technokratische und damit für viele Führungskräfte wenig attraktive Konnotation, die sie Sinnsprüchen wie «Management is doing things right; leadership is doing the right things.»18 zustimmen lässt. Dabei ist der Mehrwert eines guten Managements unbestritten; eine effiziente Aufbau- und Ablauforganisation trägt wesentlich zur Effizienz bei und spart damit Ressourcen, die so für Wichtigeres eingesetzt werden können.
Dementsprechend kennt die Managementlehre eine Vielzahl generischer und spezifischer Modelllandschaften und Prozesstheorien, die an dieser Stelle nicht weiter aufgearbeitet werden. Stattdessen lohnt es sich, den für die militärische Führung zentralen Prozess in den Mittelpunkt der weiteren Betrachtung zu nehmen. Es handelt sich um die Aktionsplanung, die mit der Lageverfolgung die Vorbereitung und Durchführung militärischer Aktionen ermöglicht. Zusammen werden diese Prozesse auch als Führungsprozesse der Schweizer Armee bezeichnet.19
Wissenschaftlich gesehen handelt es sich bei diesen Prozessen um heuristische Verfahren zur Lösung komplexer Probleme.20 Ihre Anwendung erlaubt es, für beliebige – vor allem aber komplexe – Probleme auf der Basis unvollständiger Informationen hinreichende Lösungen zu entwickeln (Aktionsplanung) und diese in einem iterativen Vorgehen laufend den sich ändernden Bedingungen anzupassen (Lageverfolgung).
Der Transfer dieser militärischen Führungsprozesse in die zivile Welt hat sich seit Jahrzehnten bewährt. Dies zeigen nicht nur anekdotische Erfahrungen einzelner Unternehmerinnen und Unternehmer.21 Auch institutionell ist ein solcher Transfer etabliert. Seit 20 Jahren bietet das Kommando Führungs- und Kommunikationsausbildung22 sogenannte Transferkurse an, in denen militärische Ausbilder zivilen Interessenten die entsprechenden Verfahren erfolgreich vermitteln. Seit 2015 sind entsprechende Module in die internationalen EMBA-Programme des IMD Lausanne integriert23 und seit 2022 können angehende Kompaniekommandanten, unter Voraussetzung eines bestandenen Leistungsnachweises, einen mit 13 ECTS-Punkten dotierten CAS in Decisive Leadership der Universität Luzern erwerben. Gemeinsam liefern diese Erkenntnisse ein solides Fundament für
These 3: Die Führungsprozesse der Schweizer Armee sind auf nichtmilitärische Kontexte übertragbar.
3.4 Führungsausbildung als Paradigma: Führungskräfte werden gemacht, nicht geboren
Im Leadership-Modell folgt auf den Führungskreis der Ausbildungskreis. Er drückt aus, dass die für Command, Leadership und Management erforderliche Handlungs-, Verhaltens- und Verfahrenssicherheit in Ausbildungen vermittelt werden kann. Dies zeigt sich nicht nur in den genannten spezifischen Kursen an der Schnittstelle zur zivilen Führung. Es ist eine Grundüberzeugung der Führungsausbildung im Allgemeinen und der militärischen Kaderschulen im Besonderen, dass Führungskräfte nicht geboren, sondern gemacht werden. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass einzelne Menschen mehr und weniger geeignete Voraussetzungen für eine Führungsrolle mitbringen. Um die Masse ihrer rund 140'000 Angehörigen zu führen, ist jedoch eine breite Kaderbasis erforderlich. Zu diesem Zweck bildet die Schweizer Armee jährlich 3'000 Unteroffiziere und 800 Subalternoffiziere, das sind Offiziere der untersten Stufe, aus. Die Ausbildungszeiten sind zwar im internationalen Vergleich kurz, dafür ist der praxisorientierte Anteil der Ausbildung hoch. Die Ausbildung zum Unteroffizier besteht z. B. aus 4 Wochen Unteroffiziersschule und anschliessendem 19-wöchigem Praktischem Dienst, dem landläufig bekannten «Abverdienen». In dieser Phase führen die Unteroffiziere bereits eine Gruppe von 5 bis 10 Rekrutinnen und Rekruten, werden jedoch von Profis, den Berufsmilitärs der jeweiligen Rekrutenschule, mittels Coachings und Ausbildung begleitet.
Dass dabei auch Fehler passieren, liegt auf der Hand. Davon zeugen nicht zuletzt alle anekdotischen Berichte über lange Wartezeiten, überforderte Gruppenführer oder chaotische Übungen. Es ist Aufgabe der übergeordneten Milizkader und begleitenden Berufskader, solche Missstände zu minimieren. Um sich aber von der grundsätzlichen Wirksamkeit der Ausbildung zu überzeugen, ist es hilfreich, sich einmal mehr den Führungsalltag in den Schweizer Rekrutenschulen vor Augen zu führen. 20'000 Rekruten werden von 3'000 Unteroffizieren nach vierwöchiger Vorbereitung geführt, die selber kaum älter als die Geführten sind und ihrerseits von Offizieren geführt werden, die auch zum ersten Mal in dieser Rolle stehen und selber noch in Ausbildung sind. Gemeinsam üben sie den Umgang mit schwerem Material und Fahrzeugen, Waffen und Munition, komplexen Systemen und bei jeder Tages- und Jahreszeit. Dabei sind sie gehalten, die Anforderungen «gelegentlich […] bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit»24 zu steigern. In Anbetracht dieser Rahmenbedingungen kann der Ausbildungserfolg als beachtlich taxiert werden. Dies führt zu
These 4: Die militärische Führungsausbildung vermag es, den angehenden und weiterzubildenden Kadern die erforderliche Handlungs-, Verhaltens- und Verfahrenssicherheit zu vermitteln.
Damit bildet die Armee zugunsten der Wirtschaft und des Staatswesens jährlich wiederkehrend über 3000 Führungskräfte von Grund auf aus und bildet über 2000 Führungskräfte für höhere Aufgaben weiter. Dies erfolgt nicht nur theoretisch, sondern in konkreter und zu Beginn angeleiteter Praxis – ein enormer gesellschaftlicher Mehrwert gerade auch für jene jungen Personen, die in diesem Alter nur selten die Möglichkeit haben, Führungserfahrung zu übernehmen. Dass dies in gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung erfolgt, sei dabei nicht verschwiegen; man denke etwa an die Arbeit der Jugendverbände oder im Vereinswesen. Es ist letztlich nur einer von vielen Beiträgen zum funktionierenden Gemeinwesen in der Schweiz – aber schon nur zahlenmässig ein gewichtiger.
3.5 Der anspruchsvolle Begriff der Erziehung
Das Dienstreglement verwendet seit 2004 den Begriff der militärischen Führung wieder gepaart mit der militärischen Erziehung.25 Der Begriff der Erziehung im Umgang mit Erwachsenen ist in der Tat anspruchsvoll – wobei anzumerken ist, dass dies nur auf die deutschsprachige Schweiz zutrifft, während die Romandie mit der «éducation» sowenig Mühe zeigt wie das Tessin mit der «educazione». Nur in der deutschen Sprache weist dieser Begriff als Bezeichnung für die «Einfluss[nahme] auf das Verhalten und auf Werthaltungen»26 einen schon fast übergriffigen Unterton auf. Wenn wir die Hinweise auf die Erziehung im Dienstreglement zu Rate ziehen, finden wir jedoch ein durchaus zeitgemässes Verständnis: «Vorgesetzte führen in erster Linie durch ihr persönliches Vorbild. Sie leben Disziplin und Engagement vor und wirken dadurch erzieherisch auf ihre Unterstellten.»27 Eine Tugend wie Disziplin mag im Zeitalter von New Work fremd tönen, sie ist aber eine zwingende Voraussetzung für die Erfüllung des zwar archaischen, für den Schutz des freiheitlichen Rechtsstaats jedoch unabdingbaren Ziels der militärischen Ausbildung und Erziehung:
Ziel der militärischen Ausbildung und Erziehung ist die Fähigkeit zur Auftragserfüllung im Krieg und in anderen Krisensituationen, auch unter Einsatz des Lebens.28
Tatsächlich helfen die weiteren Erläuterungen nicht nur zu verstehen, weshalb militärische Erziehung auch – oder gerade – im Zeitalter einer Generation Z angezeigt ist, sondern auch, dass die zugrunde liegenden Ansprüche durchaus auch in der Zivilgesellschaft, sei es in Firmen oder der Verwaltung, Gültigkeit haben. So soll die militärische Erziehung «Einstellungen [festigen], die für die militärische Gemeinschaft unerlässlich sind, wie: Kameradschaft, Vertrauen in die Führung [und] Handeln im Sinne des Verbands.» Wenn wir die militärischen Begriffe in ein ziviles «Wording» überführen, dürften viele Führungskräfte zu stimmen; «Kollegialität, Vertrauen in die Leitung und Handeln im Sinne des Teams» sind Einstellungen, die auch in zivilen Organisationen erstrebenswert sind.
Es scheint also weniger die Erziehung an sich als der Begriff an sich anspruchsvoll zu sein. In diesem Sinne leistet das Leadership-Modell eine Übersetzungshilfe, indem es den sperrigen Begriff «Erziehung» auflöst als Vermittlung von Sinn, Werten und Ordnung.29 Damit folgt
These 5: Wird die militärische Erziehung als Vermittlung von Sinn, Werten und Ordnung verstanden, können darin positive Entsprechungen im zivilen Kontext gefunden werden.
4 Mehrwert für die Staatsleitung
Nachdem im vorangegangenen Kapitel generisch für die Übertragbarkeit militärischer Führung, Ausbildung und Erziehung in zivile Kontexte argumentiert wurde, widmet sich das vorliegende Kapitel nun der spezifischen Anwendbarkeit im Kontext der Staatsleitung. Zu diesem Zweck werden die bereits bekannten Einzeldimensionen auf ihre Eignung im Kontext der schweizerischen Staatsleitung, sowohl auf Bundesebene als auch auf den nachgeordneten Ebenen, überprüft.
4.1 Auftragszentrierte Staatsleitung
Der Auftrag steht im Zentrum – was für militärisch geschulte Ohren selbstverständlich tönt, muss auch diesen immer wieder vor Augen geführt werden. So sind Aufträge bei der mündlichen Befehlserteilung wortwörtlich30 zu wiederholen und in Kommandoposten prominent, etwa über der Türe, anzuschlagen.
Die Führungsphilosophie der Schweizer Armee versteht darunter keineswegs bis ins letzte Detail geregelte Vorgaben.31 Unter dem Begriff der «Auftragstaktik» wird sogar das Gegenteil angestrebt. Die folgenden Auszüge aus dem Reglement «Führung und Stabsorganisation 17», das für alle Führungsstufen der Armee gilt, helfen dies zu verstehen:
41 […] Auftragstaktik ist Führen durch Zielvorgabe und das führungsstufenunabhängige Führungsverfahren der Schweizer Armee.
42 Auftragstaktik lässt zu, die Entscheidungsbefugnis über die Art und Weise der Ausführung des Auftrages zu delegieren und mithin zu dezentralisieren. […]
44 Der Kommandant legt Handlungsrichtlinien und Aufträge fest. Diese beinhalten nur diejenigen Auflagen und Einschränkungen, die zur Koordination der verschiedenen Aktionen oder aufgrund des eigenen Handlungsspielraums erforderlich sind.
45 Auftragstaktik bezweckt, Unterstellten im Rahmen der Absicht des Vorgesetzten ein Maximum an Handlungsfreiheit zur Auftragserfüllung zu belassen.
48 Der Kommandant muss seine Unterstellten vertrauen. Von diesen verlangt er Mitdenken und die Bereitschaft, selbständig und initiativ im Sinne seiner Absicht und seines Auftrags zu handeln. Auftragstaktik fördert die Identifikation des Unterstellten mit den übergeordneten Zielen und verlangt von jedem Pflichterfüllung und den unbedingten Willen, den Auftrag zu erfüllen.
Entgegen landläufigen32 Klischees besteht das Ideal militärischer Führung also gerade darin, möglichst wenig vorzugeben und den Mitarbeitenden möglichst viel Freiraum zu lassen. Hier lassen sich unmittelbar Parallelen zur Staatsleitung ziehen. So wird in jüngster Zeit vermehrt kritisiert, dass gewählte Exekutivmitglieder einer übermächtigen Verwaltung gegenüberstehen, die ihren politisch gewählten Vorgesetzten in Fach- und Sachkenntnis in mancher Hinsicht überlegen sind.33 Diesem Dilemma können gewählte Politikerinnen und Politiker, aber auch Spitzenkader der Verwaltung wie Amtsdirektorinnen oder Abteilungsleiter durch eine auftragszentrierte Führung und obendrein die Anwendung der Auftragstaktik entgegenwirken. Statt sich in Detailanweisungen zu verlieren, gilt es, einfache und nur durch minimale Auflagen begrenzte Aufträge zu erteilen, wo nötig die erforderliche Handlungssicherheit zu schaffen und den entsprechenden Sinn zu vermitteln.
All dies bleibt für die mit der Leitung betrauten Personen eine Herausforderung; es erfordert, wenn nicht Detailkenntnis, so doch Sachverstand. Letztlich ist auftragszentrierte Führung aber schlicht eine Frage der Erfahrung. Hier zeigt sich der unmittelbar, welchen Wert eine militärische Führungserfahrung für Aufgaben in der Staatsleitung haben kann. Wer sich während Jahren darin geübt hat, bei Informationsmangel und unter Zeitdruck einfache und verständliche Aufträge zu erteilen, wer aus eigener Erfahrung den Unterschied gelernt hat, Unterstellte zu befähigen statt einzuschränken, wer erlebt hat, was es heisst, unter widrigen Umständen (Kälte, Dunkelheit, Müdigkeit, etc.) den Sinn unangenehmer Aufträge zu vermitteln, dem wird dies auch in den Amtsstuben von Bund und Kantonen besser gelingen. Dass dabei Wortwahl und Tonfall adressatengerecht zu wählen sind, versteht sich von selbst. Somit gilt
These 6: Militärische Erfahrungen in auftragszentrierter Führung stärken die Handlungssicherheit in der Staatsleitung.
4.2 Menschenorientierte Staatsleitung
Die meisten der in den letzten Jahrzehnten neu gewählten Bundesrätinnen und Bundesräte waren zuvor Mitglieder der Bundesversammlung; von den letzten 50 Neubesetzungen stammte nur jede fünfte nicht aus einem eidgenössischen Parlament.34 Ähnliches dürfte für die Kantone gelten: die meisten Exekutivmitglieder verfügen zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts zwar über entsprechende Sachkenntnisse, aber damit nicht zwingend über Erfahrung in der Führung von Menschen. Magistratspersonen sind aber immer auch Vorgesetzte grosser Verwaltungen. So ist selbst der Vorsteher des kleinsten Departementes, des WBF, noch Chef von über 2200 Mitarbeitenden. Auch kantonale Direktionen beschäftigen vielerorts mehrere hundert Angestellte.
Natürlich kommt es gerade im Schweizer Milizsystem vor, dass Exekutivmitglieder abseits ihrer politischen Laufbahn Führungserfahrungen sammeln; so waren im Jahr 2023 immerhin 27.0% der Nationalräte dem Unternehmertum zuzurechnen35 und auch unter den 34.5% Berufspolitikern finden sich solche, die etwa Führungserfahrungen mit der Leitung von Parteisekretariaten sammeln. Solches Vorwissen beschränkt sich jedoch häufig auf die Teamleitung oder andere Formen direkter Führung. Nur selten umfasst es die Führung von hundert und mehr Personen.
Es geht dabei nicht nur um eine schiere Menge, sondern auch um den grundsätzlich unterschiedlichen Zugang, sobald Führung über mehrere Führungsebenen hinweg erfolgt. Wer selber Führungskräfte zu seinen Unterstellten zählt,36 lernt erst einmal die Chancen und Herausforderungen indirekter, mittelbarer Führung kennen. Mit Herausforderungen sind durchaus spezifische Probleme gemeint; so sprach alt Bundesrat Ueli Maurer etwa von der «Lehmschicht der Verwaltung»,37 welche den Durchschlag auf die ausführenden Stellen verhindere. Es bieten sich aber auch einmalige Chancen, wenn unterstellte Führungskräfte als Multiplikatoren verstanden werden können, die es zu aktivieren und zu fördern gilt.
Es ist durchaus eine Besonderheit militärischer Führungsausbildung, dass die entsprechenden Erfahrungen bereits sehr früh gesammelt werden können. Bereits der unterste Offiziersgrad, von denen die Schweizer Armee jährlich 800 ausbildet, führt seine 20 bis 40 Rekruten mittels drei bis fünf Gruppenführern. Eine Erfahrung, die für gewöhnlich bereits im Alter von 21 oder 22 Jahren gemacht und später ausgebaut werden kann. In der Privatwirtschaft sind Kader häufig älter, wenn sie zum ersten Mal mehrere Teams im Verbund führen.
Auch hier gilt es die Unterschiede zu anerkennen. So sind militärische Verbände hinsichtlich Alter, soziokulturellem Hintergrund und insbesondere Geschlecht in der Regel deutlich homogener als Verwaltungen. Menschen, menschliche Herausforderungen und die gemeinschaftlichen Ansätze, um diese anzugehen, unterscheiden sich jedoch im Kontext der Schweizer Armee nicht grundsätzlich von jenen der Zivilgesellschaft – denn es sind dieselben Menschen. Das spricht für
These 7: Militärische Erfahrungen in menschenorientierter Führung stärken die Verhaltenssicherheit in der Staatsleitung.
4.3 Organisationsbasierte Staatsleitung
Für die generelle Übertragbarkeit der militärischen Führungsprozesse, namentlich der Aktionsplanung und der Lageverfolgung, wurde bereits weiter oben argumentiert. Wenn diese Prozesse das Vorbereiten, Fällen und Umsetzen von Entscheiden in der Privatwirtschaft und der Verwaltung erleichtern, so kann dies leicht auf die Aufgaben der Staatsleitung übertragen werden.
Darüber hinaus ergibt sich ein weiterer, unmittelbarer Nutzen für die spezifischen Herausforderungen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz hat mit seinem «Handbuch Führung im Bevölkerungsschutz» eine 2021 eine Dokumentation veröffentlicht, die sich sowohl an zivile Führungsorgane der Ebenen Bund, Kantone und Gemeinden als auch an die Partnerorgane des Bevölkerungsschutzes (Polizei, Feuerwehr, Zivilschutz, Gesundheitswesen, Technische Betriebe) wendet.38 Die darin beschriebenen Prozesse der Stabsarbeit lehnen sich ganz bewusst – und eng – an die Prozesse der Schweizer Armee an, um die Zusammenarbeit im Sicherheitsverbund Schweiz zu vereinfachen. Wenn Personen mit Staatsleitungsaufgaben über militärisches Prozesswissen verfügen, kennen sie damit gleichzeitig auch die Verfahren der Organe des Bevölkerungsschutzes, denen in Krisenlagen besondere Bedeutung zukommt. Dies führt zur
These 8: Militärische Erfahrungen in organisationsbasierter Führung stärken die Verfahrenssicherheit in der Staatsleitung.
Ein Tatbeweis der Wirksamkeit jener Erfahrungen hat der Kanton Graubünden während der Corona-Pandemie 2020 – 2022 erbracht. Der damalige Amtsleiter Militär und Bevölkerungsschutz, Martin Bühler, war als Leiter des Kantonalen Führungsstabs treibende Kraft hinter einer Corona-Strategie, die als innovativste39 Corona-Politik der Schweiz gelten kann. Letztlich handelt es sich dabei um eine unmittelbare Anwendung der militärischen Führungsprozesse, die Martin Bühler als Oberst im Generalstab erlernt hatte; die schweizweit einzigartige Test-Strategie war eine unmittelbare Umsetzung der militärischen Lageverfolgung. Zu seiner (erfolgreichen) Kandidatur zum Regierungsrat im Mai 2022 schrieb die NZZ, «sein Programm für die Regierung folgt den Prinzipien des militärischen Managements. Lage beurteilen, analysieren, Varianten ausschaffen, entscheiden.» 40
Zwischenzeitlich wurde ausgearbeitet, wie das positive Beispiel des Kantons Graubünden genutzt und die gemachten Fehler auf Stufe Bund vermieden werden könnten, um auf künftige Krisenlagen besser vorbereitet zu sein.41 Der aktuelle Entwurf der neuen Verordnung über die Krisenorganisation der Bundesverwaltung (KOBV) lässt jedoch befürchten, dass die künftige Krisenorganisation des Bundes weiterhin eher den Gesetzmässigkeiten des schweizerischen Direktorialsystems als den Prinzipien effektiver Krisenführung folgt. So sieht die Vernehmlassungsvorlage nach wie vor ein «federführendes Departement»42 vor. Der Grundsatz der «Federführung» wurde bereits in den «Weisungen über das Krisenmanagement in der Bundesverwaltung» vom 21. Juni 2019 festgehalten.43 Militärische Erfahrungen in organisationsbasierter Führung legen jedoch nahe, dass mindestens der politisch-strategische Krisenstab, konsequenterweise aber auch der operative Krisenstab in der Bundeskanzlei angesiedelt sein müsste – gemäss Bundeverfassung schliesslich auch die allgemeine Stabsstelle des Bundes.44 Dem gegenüber war das vom federführenden Eidgenössischen Departements des Innern EDI mit der Krisenführung betraute Bundesamt für Gesundheit BAG während der Corona-Pandemie von Beginn weg überfordert. Den unter ausserordentlichem Druck stehenden Mitarbeitenden des BAG war dies keineswegs anzulasten; es war schlicht unredlich, eine Organisation mit der Krisenführung zu betrauen, die einerseits durch die fachlichen Anforderungen bereits maximal gefordert war und andererseits keinerlei Erfahrung in der Krisenführung aufweisen konnte. Es ist dabei nicht erstaunlich, dass diese Problematik von militärisch geschulten Beobachtern bereits früh erkannt wurde.45 Das Bundesamt für Gesundheit mit der Führung einer gesamtgesellschaftlichen Krise zu betrauen, nur weil die Krise seinen Ursprung in einem gesundheitlichen Thema hat, scheint aus militärischer Perspektive geradezu widersinnig. Es wäre, als würde ein Bataillonskommandant die Führung seinem Aufklärungszug überlassen, nur weil der Krieg seinen Ursprung im Gegner hat und die Aufklärer diesen zuerst gesehen haben.
5 Fazit
Führung im Allgemeinen und Staatsleitung im Besonderen ist eine komplexe Angelegenheit. Das Leadership-Modell der Schweizer Armee bietet an, die Vielschichtigkeit dieser Herausforderungen in die Dimensionen Auftrag, Mensch und Organisation zu zerlegen. Diese Bereiche können mitnichten losgelöst voneinander betrachtet werden; viel mehr stehen sie in anspruchsvollen wechselseitigen Beziehungen. Letztlich zeigt es jedoch persönliche Führungserfahrung aus, diese Spannungsverhältnisse bereits erlebt zu haben. Das allgemeine Postulat der Übertragbarkeit militärischer Führungserfahrungen auf zivile Kontexte impliziert dabei, dass der eigentliche Auftrag, die betroffenen Menschen oder die beteiligten Organisationen die Art der Führung nicht grundsätzlich verändern. So, wie sich die militärische Führung in einem freiheitlichen Rechtsstaat an zivilen Normen orientieren soll, kann auch die zivile Staatsleitung von militärischen Erfahrungswerten, seien sie individuell oder institutionell, profitieren.
Indem die Schweizer Armee jährlich wiederkehrend mehr als 5'000 Personen für die Übernahme von Führungsverantwortung aus- und weiterbildet und ihnen unmittelbare Führungserfahrungen ermöglicht, ist und bleibt sie die grösste Kaderausbildungsstätte für die Schweizer Gesellschaft. Sie ermöglicht auch Personen in zivile Führungschargen zu kommen, die keine Möglichkeiten haben, anderweitig in jungen Jahren Führungserfahrungen zu sammeln. Die Führungsausbildungen in Armee, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ergänzen sich dabei gegenseitig; der gesellschaftliche Nutzen ist enorm.
Diese breite gesellschaftliche Wirkung ermöglicht vielen jungen Leuten den Einstieg in die Gemeindepolitik und dadurch später in die Staatsleitung auf kantonaler oder eidgenössischer Ebene. Gerade in periphereren Räumen unseres Landes, in denen nur die wenigsten eine Möglichkeit haben, in der Wirtschaft Führungsausbildungen zu absolvieren und Führungserfahrungen zusammen hat diese militärische Chance einen besonderen Stellenwert. Unser Milizsystem ist darauf angewiesen und täte gut daran, auch für diesen militärischen Beitrag dankbar zu sein.
Unsere Gesellschaft ist seit dem 20. Jahrhundert heterogener geworden; die Kader in Wirtschaft, Politik und Militär vereinigen sich nicht mehr in einem Archetyp.46 Diese Vielfalt birgt ein grosses Potential. Das Ziel einer zukunftsfähigen Staatsleitung soll und kann nicht in der Vergangenheit des «Uno» (Unternehmer, Nationalrat, Oberst) liegen. Gleichzeitig kann aber auch eine Segmentierung der Gesellschaft in verschiedene Erfahrungs- und Normenräume keine Lösung sein, denn die sicherheitspolitischen, ökonomischen, technologischen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft benötigen ganzheitliche Vorgehensweisen und stellt gerade an die junge Generation hohe Ansprüche. Die Führungsausbildungen der Schweizer Armee sind in ihrer Praxisnähe und in ihrer Breite unübertroffen. Von der Möglichkeit, bereits mit 20 Jahren Teams von 5 bis 50 Menschen zu führen, profitieren jährlich über 3000 junge Menschen; mehr als 100 von ihnen werden jährlich ausgebildet, 150-köpfige Verbände zu führen. Dies mit 25 Jahren zu tun, ist beinahe einzigartig.
Diesen Mehrwert erkennen nicht zuletzt auch jene Frauen, die sich freiwillig zum Militärdienst melden. Der Bestand an Frauen hat sich in den letzten Jahren stetig erhöht, indem der Anteil von 0.9% im Jahr 2020 auf 1.6% im Jahr 2024 angestiegen ist. Dies bleibt zwar absolut betrachtet gering und es scheint fraglich, ob sich dies substantiell ändert, solange für Männer die Wehrpflicht und für Frauen die Freiwilligkeit besteht. Eindrücklich ist jedoch festzustellen, dass bei den militärisch eingeteilten Frauen der Anteil der Kader 64.2% beträgt.47 Mit anderen Worten: beinahe zwei Drittel aller Frauen, die freiwillig Militärdienst leisten, übernehmen in der Folge auch eine Führungsfunktion. Damit zeigen sie, dass militärische Führungskräfte mitnichten maskuline Nostalgiker sind, sondern dass die militärische Führungsausbildung auch in einer offenen und modernen Schweiz einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zu einem funktionierenden Gemeinwesen leisten kann.
Die Schweizer Armee ist bereit, auch diese Rolle zu übernehmen – deshalb hat der Chef der Armee das strategische Ziel gesetzt, bis 2030 zum Benchmark für Krisenmanagement und Leadership in der Schweiz zu werden.48 Es bleibt zu hoffen, dass sich gerade in den Zeiten wachsender geopolitischer Unsicherheit vermehrt junge Männer und Frauen diesen Herausforderungen stellen, um ihre Erfahrungen später in anderen Bereichen, von der Wirtschaft bis zur Staatsleitung, einzubringen.
Hinweis: Zur Zitierfähigkeit wird auf dieses Dokument verwiesen ZFS_Nr10_Hofstetter (PDF, 322 KB)
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1 Patrick Hofstetter, Dr. oec. UZH, M.Sc. in Physics UNIBE, Eidg. Dipl. Berufsoffizier ETH. Geboren 1982, verheiratet seit 14 Jahren, 2 Kinder, wohnhaft in Brügg BE. Ursprünglich Gymnasiallehrer für Physik und Mathematik, war Hofstetter während 11 Jahren als Berufsoffizier in der Kaderausbildung und im Personalwesen der Schweizer Armee tätig. 2020 – 2022 baute er die Weiterbildungsakademie der Universität Luzern auf, bevor er per 01.01.2023 zum Hauptamtlichen Dozenten Führung und Kommunikation der Militärakademie an der ETH Zürich ernannt wurde. Hofstetter war in seiner Milizfunktion bis Ende 2024 Kommandant des Gebirgsinfanteriebataillons 29 und ist aktuell als Oberstlt i Gst im Stab Operative Schulung eingeteilt. Die von ihm editierte NZZ-Verlagsbeilage «Krisenmanagement Schweiz» vom 24.12.2022 ist mittlerweile als Buch im Verlag NZZ-Libro erschienen.
4 Wohlwissend, dass der Werdegang des Autors in einem Spannungsverhältnis zu einer rein objektiven Darstellung steht.
5 Dienstreglement der Armee (DRA) vom 22. Juni 1994 (Stand am 1. Januar 2022), Art. 1, lit. a.
6 Zaleznik, A. (1977). Managers and leaders: Are they different? Harvard Business Review.
7 Eine LinkedIn-Suche zu den beiden Begriffen liefert Anschauungsmaterial in Fülle.
8 Hofstetter, P. (2023). 2023). 95 Thesen zur Führung in der Schweizer Armee und darüber hinaus. Stratos 3(2), 126–135.
9 Gruppe Verteidigung (2025). IMPULS. Strategie zur Vision 2030 der Gruppe Verteidigung. Zentrum digitale Medien der Armee DMA, 81.377d.
10 Die Gruppe Verteidigung bezeichnet die Armeeverwaltung im VBS, namentlich die rund 9’500 Lohnempfänger; dies in Ergänzung zur Armee mit rund 147'000 Soldempfängern.
11 DRA Art. 9 Abs. 2.
12 DRA Art. 12 Abs. 4.
13 DRA Art. 79.
14 British Ministry of Defence (2021). Army Leadership Doctrine. AC 72029, Ziffer 1-09. Abgerufen am 28.01.2025 von https://www.army.mod.uk/media/24335/20210923_army-leadership-doctrine-web_final.pdf.
15 Wem der Begriff Command zu militärisch scheint, kann sich der zivilen Alternative Direction bedienen; diese Bezeichnung verwendet der Britische Militärhistoriker und Führungscoach Stephen Bungay in seinem Buch «The Art of Action. How Leaders Close the Gaps between Plans, Actions and Results», um eine eigene Abgrenzung zu Leadership und Management vorzunehmen.
16 Steiger, R. (2023). Menschenorientierte Führung. 22 Thesen für den Führungsalltag. 20. Auflage.
17 Vgl. Steiger, R. (1996). Auftragszentrierte und menschenorientierte Führung: Eine notwendige Begriffsklärung. Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift, 162(2), 15–16.
18 Drucker, Peter F. (2000). The Essential Drucker. The Best of Sixty Years of Peter Drucker’s Essential Writings on Management. HarperPB.
19 Das zugehörige Reglement ist die «Führungs- und Stabsorganisation der Armee 17», 51.040d. In der Broschüre «Militärisches Management» werden diese Prozesse allgemeinverständlich und mit hinterlegten Videos erklärt: https://po.zem.ch/live/83_384_d_dokumentation_militaerisches_management/index.html.
20 Für ein ziviles Äquivalent, das dem militärischen Verfahren nicht zufällig weitgehend ähnelt, siehe Grünig, R. und Kühn, E. (2017). Prozess zur Lösung komplexer Entscheidungsprobleme: Ein heuristischer Ansatz. SpringerGabler.
21 Man vergleiche hierzu etwa die über 100 Testimonials von Führungskräften aus Wirtschaft und Verwaltung auf https://leadershipcampus.ch/vernetzung/testimonials/.
24 DRA, Einführung 4. Kapitel Militärische Ausbildung und Erziehung.
25 Für eine kurze Zeit, von 1995 bis 2003, wurde auf die «Erziehung» aus den nachfolgend erläuterten Gründen verzichtet.
26 DRA, Einführung 4. Kapitel Militärische Ausbildung und Erziehung.
27 DRA Art. 16.
28 DRA Art. 32
29 Die Vermittlung von Ordnung scheint der Gouvernanten-haften Erziehung noch am Nächsten zu liegen. Letztlich ist es aber genau das, was Firmen im Rahmen der Good Governance durchsetzen wollen.
30 «Hält Wiedikon» bedeutet taktisch etwas gänzlich anderes als «hält in Wiedikon».
31 Auch wenn, genährt von der Verwaltung, solche Tendenzen immer wieder Überhand nehmen.
32 Tatsächlich sind diese Vorstellungen in sämtlichen westlichen Ländern verbreitet, obwohl seit dem 2. Weltkrieg westliche Streitkräfte bestrebt ist, die Auftragstaktik als Führungsphilosophie zu verankern – im englischen Sprachraum unter dem Begriff «Mission Command». Für eine Übersicht siehe Shamir, E: (2011): Transforming Command: The Pursuit of Mission Command in the U.S., British, and Israeli Armies. Stanford Security Studies.
33 Z. B. Friedli, D. (2024): Wie deep ist der Schweizer state? Über die unterschätzte politische Macht der Bundesverwaltung. Neue Zürcher Zeitung vom 28.12.2024. Abgerufen am 25.01.2025 von https://www.nzz.ch/report-und-debatte/die-bundesverwaltung-der-unterschaetzte-machtfaktor-ld.1864063.
46 Wer es romanhaft überzeichnen will, darf an Oberst Nationalrat Dr. Ammann aus Meinrad Inglins «Schweizerspiegel» (1938) denken, dem helvetischen Buddenbrooks-Pendant.
47 Alle Zahlen sind ersichtlich in der Armeeauszählung 2024, abrufbar unter https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/90419.pdf.
48 Gruppe Verteidigung (2025). IMPULS. Strategie zur Vision 2030 der Gruppe Verteidigung. Zentrum digitale Medien der Armee DMA, 81.377d.