ZFS Nr. 3/2024
Ein Beitrag von Bundesrätin Karin Keller-Sutter1
Vorbemerkung: Die Staatsleitung gehört zu den Kernaufgaben von Exekutivbehörden. Im schweizerischen System mit ihren Kollegialregierungen ist diese Aufgabe insofern anspruchsvoll, als die Regierungsmitglieder einem Fachdepartement oder einer Fachdirektion vorstehen und gleichzeitig die gesamte Regierungstätigkeit mitverantworten. Staatsleitung heisst für mich daher in erster Linie, aktiv Verantwortung für die Exekutive als Ganze zu übernehmen. Nur mit diesem Blick fürs und aufs Ganze können wir den hohen Anforderungen an die Staatsleitung im Bundesstaat gerecht werden, in dem sich grundlegende Themen nur in Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen bewältigen lassen.
Gerade im Bereich der föderalen Staatsordnung verwirklicht sich unser Verfassungsrecht nicht von alleine. Im politischen Alltag dominieren oft Gewohnheiten, Bequemlichkeiten und Zeiterscheinungen – verbunden mit einem Hang zur Zentralisierung und zu vermischten Zuständigkeiten. Für mich ist es daher eine der zentralen Aufgaben der Staatsleitung, den verfassungsrechtlichen Prinzipien unseres Föderalismus’ stets von Neuem Nachachtung zu verschaffen. Das wichtigste dieser Prinzipien ist die Zuordnung respektive die immer wieder vorzunehmende Entflechtung der Aufgaben von Bund und Kantonen.
1. Schweizer Föderalismus: Subsidiarität und fiskalische Äquivalenz
These I: Grundlegenden Maximen wie der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz müssen wir immer wieder durch konkrete Massnahmen Nachachtung verschaffen.
Der Föderalismus gehört neben dem Rechtsstaat, der direkten Demokratie und der Sozialstaatlichkeit zu den konstitutiven Grundpfeilern des schweizerischen Bundesstaats. Die Begriffe Föderalismus und Bundesstaat sind dabei untrennbar miteinander verbunden, wie die Rechtwissenschafterin Ursula Abderhalden schrieb. Dabei werde der bundesstaatliche Aufbau aber allzu leicht als selbstverständlich hingenommen, da man sich heute für die Schweiz keinen anderen Staatsaufbau mehr vorstellen könne. Dies sei jedoch nicht immer so gewesen, denn:
«Der schweizerische Bundesstaat mit all seinen Eigenheiten, wie er heute existiert, ist kein theoretisches, von Staatsrechtlern geschaffenes System, sondern das Ergebnis einer zweihundertjährigen Entwicklung mit einem dauernden Hin und Her zwischen Staatenbund und Einheitsstaat, mit Auseinandersetzungen zwischen Föderalisten und Zentralisten, zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Katholiken und Protestanten. Aus diesen Auseinandersetzungen ist der schweizerische Bundesstaat in seiner spezifischen Ausprägung gewachsen. Insbesondere ist die Stellung der Kantone innerhalb des Bundesstaates Schweiz nicht unabhängig von ihrer Entstehung zu betrachten. Sie baut nämlich nicht auf Staatstheorien auf, sondern auf der Entwicklung von unabhängigen Kleinstaaten hin zu einem funktionierenden, modernen Staat.»2
Die hier beschriebenen Auseinandersetzungen mündeten gar in einem kurzen Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg von 1847. Nach ihrem Sieg widerstanden die Liberalen der Versuchung, eine «Siegerjustiz» aufzusetzen und der ersten Bundesverfassung von September 1848 einen allzu zentralistischen Stempel aufzudrücken. Vielmehr schrieben sie in Artikel 3 der Verfassung:
«Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist, und üben als solche alle Rechte aus, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind.»3
Mit Fug und Recht können wir also sagen, dass der Föderalismus zur DNA des schweizerischen Bundesstaates gehört. Dieser Passus hat nämlich alle Teil- und Totalrevisionen der Bundesverfassung der vergangenen 176 Jahre überlebt. Noch heute lautet Artikel 3 unserer Bundesverfassung:
«Die Kantone sind souverän, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist; sie üben alle Rechte aus, die nicht dem Bund übertragen sind.»4
Konkretisiert wird die föderale Staatsordnung in den Artikeln 5a und 42 ff. der Bundesverfassung. Sie lässt sich mit vier Prinzipien umschreiben:
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Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass in einem Bundesstaat die übergeordnete Gebietskörperschaft eine Aufgabe nur dann übernehmen soll, wenn diese die Kraft der untergeordneten Gebietskörperschaften übersteigt oder einer einheitlichen Regelung bedarf (Art. 5a und Art. 43a Abs. 1 BV). Die Aufgabenerfüllung soll möglichst nahe an den Bürgerinnen und Bürgern erfolgen.
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Das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz verlangt die Kongruenz von Nutzniesser, Kosten- und Entscheidungsträger (Art. 43a Abs. 2 und 3 BV). Der Personenkreis, dem der Nutzen aus einer öffentlichen Aufgabe zukommt, soll darüber entscheiden können und entsprechend die Kosten tragen. Diese Symmetrie erlaubt, Entscheidungen über Aufgaben und deren Kosten entsprechend den Präferenzen der (von den Entscheiden betroffenen) Bürgerinnen und Bürger zu treffen. Damit werden zudem unerwünschte externe Effekte vermieden. Populär ausgedrückt, lautet das Prinzip: Wer zahlt, befiehlt; wer befiehlt, zahlt.
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Der Bund wahrt die kantonale Organisations-, Aufgaben- und Finanzautonomie (Art. 47 Abs. 2 BV). Die Aufgabenautonomie beinhaltet, dass einerseits die kantonalen Zuständigkeiten gewahrt bleiben. Andererseits muss auch innerhalb der Bundeskompetenzen eine schonende Kompetenzausübung erfolgen, denn:
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In der Schweiz gilt der Vollzugsföderalismus, d.h. der Grundsatz, dass die Kantone das Bundesrecht umsetzen (Art. 46 Abs. 1 BV). Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip erlaubt der dezentrale Vollzug des Bundesrechts eine bürgernahe Umsetzung und trägt kantonalen Unterschieden wie auch bereits bestehenden Verwaltungsstrukturen Rechnung.
Subsidiarität und fiskalische Äquivalenz gelten seit jeher als Maximen im Bundesstaat. Sie sind jedoch erst 2008 mit der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA, siehe Kapitel 2) explizit in die Verfassung aufgenommen worden. Als der Bundesrat 2012 darlegen musste, wie er die Einhaltung der Prinzipien der NFA einzuhalten gedenke, hielt er u.a. folgendes fest:
«Für den Bundesrat ist (…) klar: Auch wenn (…) sowohl das Subsidiaritätsprinzip als auch jenes der fiskalischen Äquivalenz nicht justiziabel sind, handelt es sich bei diesen Prinzipien doch um grundlegende Maximen des schweizerischen Bundesstaates. Sie haben sowohl für eine nachhaltige Stärkung des Föderalismus als auch eine effiziente staatliche Leistungserfüllung grosse Bedeutung. Da sie nicht justiziabel sind, gilt es nach Auffassung des Bundesrates umso mehr, ihnen im politischen Alltag Nachachtung zu verschaffen.»5
Heute, 20 Jahre, nachdem Volk und Stände der NFA zugestimmt haben, ist es Zeit, diesen Maximen mit einer neuen umfassenden Aufgabenentflechtung zwischen den beiden Staatsebenen Nachachtung zu verschaffen.
2. Ausgangslage: NFA – Ausgestaltung, Wirkung und Anpassungen
These II: Die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen ist der eigentliche Gradmesser für den Föderalismus im Schweizerischen Bundesstaats. Nur mit einer ernsthaften Aufgabenentflechtung kann der Zentralisierungstendenz wirksam entgegengetreten werden.
Am 28. November 2004 haben Volk und Stände die Verfassungsbestimmung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) mit deutlicher Mehrheit angenommen6. Vorausgegangen waren der Abstimmung eine über zehnjährige Vorbereitung und eine intensive parlamentarische Debatte. In seinem Eintretensvotum im Ständerat brachte der damals zuständige Bundesrat Kaspar Villiger die Bedeutung des Geschäfts folgendermassen zum Ausdruck:
«Man hat schon lange gespürt, dass der Föderalismus nicht mehr so funktioniert, wie er eigentlich funktionieren sollte. Die Aufgabenteilung ist sehr unübersichtlich geworden, und die Kompetenzen sind verwischt. Es ist unverkennbar, dass die Kantone nach und nach zu Verwaltungsbezirken zu degenerieren drohen. (…) Als ich seinerzeit als Parlamentarier in den Nationalrat kam, war man an der letzten Aufgabenteilungsübung; diese ist total versandet. Wenn die vorliegende Übung auch versandet, wird in diesem Bundesstaat niemals jemand mehr den Mut haben, das Problem neu anzupacken. Dann ist der Tatbeweis erbracht, dass man die herrschenden Verhältnisse nicht mehr aufbrechen kann. Dann geht die Entwicklung wahrscheinlich wirklich in Richtung Verwaltungsbezirke, und damit würde irgendwo ein Element unserer Identität verschwinden.»7
Die NFA trat am 1. Januar 2008 in Kraft und verfolgte zwei Hauptziele: Die Verringerung kantonaler Unterschiede in der finanziellen Leistungsfähigkeit und die Steigerung der Effizienz bei der Aufgabenerfüllung im Bundesstaat. Die Reform bestand aus vier Elementen:
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Entflechtung der Aufgaben und deren Finanzierung zwischen Bund und Kantonen
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Zweckmässigere Zusammenarbeit bei Verbundaufgaben von Bund und Kantonen
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Verstärkte Zusammenarbeit mit Lastenausgleich zwischen den Kantonen
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Neugestaltung des Finanzausgleichs im engeren Sinne
Der Bundesrat unterbreitet dem Parlament periodisch einen Bericht über die Wirksamkeit des Finanzausgleichs. Im März 2024 hat der Bundesrat den Wirksamkeitsbericht für die Jahre 2020 bis 2025 verabschiedet8 und die darin vorgeschlagenen Massnahmen in eine Vernehmlassung gegeben.
2.1 Der Finanzausgleich im engeren Sinn
Der Finanzausgleich im engeren Sinn steht zwar nicht im Zentrum dieser Ausführungen. Vielmehr geht es um die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen. Denn sie ist der eigentliche Gradmesser für den Föderalismus – also dafür, wie erfolgreich die Prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz tatsächlich realisiert werden. Trotzdem soll hier kurz auf die Finanzausgleichsmechanismen eingegangen werden, weil die neu etablierten Finanztransfers einen wichtigen Erfolgsfaktor der NFA darstellten. Sie wurden auch schon als «Schmiermittel des Föderalismus» bezeichnet.
Die neuen Verfassungsbestimmungen zum Finanzausgleich im engeren Sinn sind im Bundesgesetz vom 3. Oktober 2003 über den Finanz- und Lastenausgleich (FiLaG9) umgesetzt worden. Der neue Finanzausgleich umfasst grundsätzlich zwei voneinander unabhängige Ausgleichsinstrumente, die unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen. Mit dem Ressourcenausgleich sollen Unterschiede in der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kantone ausgeglichen werden, wobei zwischen einem horizontalen (zwischen den Kantonen) und einem vertikalen Ressourcenausgleich (vom Bund zu den Kantonen) unterschieden wird. Weitere Ziele sind die Stärkung der kantonalen Finanzautonomie, der Erhalt der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit, die Gewährleistung einer minimalen Ausstattung mit finanziellen Ressourcen sowie der Abbau der Unterschiede bei der Steuerbelastung. Der Lastenausgleich entschädigt Kantone, die in bestimmten Aufgabenbereichen übermässige strukturbedingte Kosten aufweisen («geografisch-topografischer» respektive «soziodemografischer» Lastenausgleich). Ein zeitlich befristeter Härteausgleich verhindert, dass ressourcenschwache Kantone durch den Systemwechsel im Jahr 2008 finanziell schlechter gestellt werden.
2020 wurden die Regeln des Finanzausgleichs angepasst. Die Kernelemente der Reform waren die Einführung einer garantierten Mindestausstattung, welche die Finanzmittel der ressourcenschwachen Kantone auf mindestens 86,5 Prozent des nationalen Durchschnitts anhebt, sowie die Festlegung einer fixen Dotation des Lastenausgleichs. Befristete Abfederungsmassnahmen mildern die Auswirkungen dieser Reform. Seit diesem Jahr glätten zudem befristete Ergänzungsbeiträge die Auswirkungen der Anpassungen des Ressourcenausgleichs im Rahmen der AHV-Steuervorlage (STAF10).
2.2 Die Entflechtung der Aufgaben
Die Entflechtung der Aufgaben und deren Finanzierung zwischen Bund und Kantonen war ein Hauptziel der NFA. Daher wurden mit dieser Vorlage eine umfassende Analyse der Zuordnung der Verbundaufgaben vorgenommen und auf das Einführungsjahr 2008 auch eine beachtliche Anzahl Entflechtungen realisiert. In der ersten Projektphase hatte die Projektorganisation 21 Aufgabenentflechtungen vorgeschlagen. Trotz teilweise grossen politischen Widerständen konnten schliesslich deren 17 realisiert werden11. Wenn man sich die damalige Debatte in der Bundesversammlung vor Augen führt, darf man ohne Übertreibung von einem grossen Wurf sprechen. So machte etwa die Ratslinke im Nationalrat geltend, dass das NFA-Projekt «die soziale Sicherheit in der Schweiz gefährdet» (Christine Goll, SP/ZH) oder dass es ein Staatsverständnis zementiere, «mit dem man nicht nur ins letzte, sondern ins vorletzte Jahrhundert zurückkehrt» (Cécile Bühlmann, Grüne LU)12. Im Ständerat kam die Skepsis vieler Kantone zum Ausdruck. Die Geberkantone befürchteten, zu viel zahlen zu müssen, und die Nehmerkantone zweifelten daran, dass die NFA die wirtschaftlichen und finanziellen Disparitäten wirklich verringern könnte13.
Wie weiter oben ausgeführt, war dieser Erfolg auch begünstigt durch die Aussicht auf einen deutlich verstärkten und effektiveren Finanzausgleich. Zu den finanziell gewichtigsten Entflechtungen zählten die Nationalstrassen und die Rentenzahlungen in der AHV und der IV (beide neu in der alleinigen Verantwortung des Bunds) sowie die Behinderteninstitutionen und die Sonderschulung (beide neu in der alleinigen Verantwortung der Kantone).
Im Wirksamkeitsbericht 2012-201514 von März 2014 untersuchte der Bundesrat die Erfahrungen in den 2008 entflochtenen Bereichen am Beispiel der quantitativ bedeutendsten Aufgabengebiete (Sonderschulung, Behindertenwesen sowie Nationalstrassen). Er kam dabei zum Schluss, dass die Erkenntnisse aus den drei beobachteten Aufgabengebieten insgesamt auf eine grösstenteils gelungene Entflechtung hinwiesen. In einer Umfrage hatten sich auch die Kantone mehrheitlich positiv zu den Erfahrungen mit der Aufgabenentflechtung geäussert. Insbesondere im Bereich der Nationalstrassen liessen sich Effizienzgewinne beziffern, die deutlich über den zu Beginn geschätzten jährlichen Kosteneinsparungen lagen. Hingegen waren in den anderen beiden Bereichen aufgrund von Systemänderungen noch keine quantitativen Aussagen zu allfälligen Effizienzgewinnen der Entflechtung möglich.
Im genannten Wirksamkeitsbericht stellte der Bundesrat auch die Frage, ob es weitere Aufgabenentflechtungen brauche. Die Antwort fiel differenziert aus: Zum einen seien zunächst die bisherigen Aufgabenentflechtungen vollständig umzusetzen und deren finanzielle Auswirkungen zu analysieren. Zudem gebe es keine konsolidierten Vorschläge der Kantone für weitere Entflechtungen. Zum anderen stelle die Überprüfung der Zuständigkeiten von Bund und Kantonen eine Daueraufgabe dar. Für eine Prüfung allfälliger weiterer Aufgabenentflechtungen müsse jedoch eine aus einer Gesamtoptik gegebene sachliche Notwendigkeit und ein Einvernehmen zwischen Bund und Kantonen bestehen. Zudem wäre bei der Umsetzung eines allfälligen zweiten NFA-Pakets das Prinzip der Haushaltsneutralität gebührend zu beachten.
Schon etwas verbindlicher tönte es nur zwei Monate später im Bericht des Bundesrats zum Postulat 12.3412 (Stadler)15, zumal der Bundesrat darin auch eine der Politik inhärente Neigung zu Kompetenzverschiebungen zum Bund ausmachte:
«Sämtliche in der Prüfperiode vorgenommenen Gesetzesänderungen und beschlossenen neuen Gesetze, welche die Aufgabenteilung oder die Aufgabenerfüllung von Bund und Kantonen zum Gegenstand hatten, haben dem Bund zusätzliche Einwirkungsmöglichkeiten verschafft oder Kompetenzen eingeräumt. Insofern ist eine gewisse Zentralisierungstendenz festzustellen (…) Um den Zentralisierungstrend zu brechen, wird es zu gegebener Zeit und im Rahmen eines Gesamtpakets wiederum einer Überprüfung der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen oder einer formellen und materiellen Bereinigung des Bundesrechts bedürfen.»16
Untersucht hat der Bundesrat dabei rund 120 Beschlüsse zwischen dem 1. Dezember 2004 und dem 31. Dezember 2013, welche die Kantone betrafen. In acht Fällen seien dabei das Subsidiaritätsprinzip oder das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz nicht oder nicht vollständig eingehalten worden17.
Im Juni 2019 war es dann so weit: Der Bundesrat und die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) haben mit dem Projekt «Aufgabenteilung II» eine erneute Überprüfung der Aufgabenteilung in vier Aufgabengebieten gestartet (individuelle Prämienverbilligung, Ergänzungsleistungen AHV/IV, regionaler Personenverkehr und Ausbau Bahninfrastruktur)18. Das Projekt ist jedoch nie zum Fliegen gekommen, weil es in den zuständigen Fachdirektionen der Kantone und auch in den zuständigen Departementen auf Bundesebene blockiert war. Schliesslich wurde es im März 2021 mit Verweis auf die Covid-19-Pandemie sistiert.
Ein Übungsabbruch kam jedoch nicht in Frage, weil der weiter oben beschriebene Hang zur Zentralisierung nicht aus der Welt geschaffen war. Daher nahmen der Bundesrat und die KdK den Faden drei Jahre später wieder auf und lancierten das Nachfolgeprojekt «Entflechtung 27 – Aufgabenteilung Bund-Kantone» - mit einem neuen, breiteren Ansatz.
3. Das Projekt «Entflechtung 2027 – Aufgabenteilung Bund-Kantone»
These III: Wer zahlt, befiehlt! Das Ziel einer Aufgabenentflechtung besteht in einer klaren Zuweisung der Verantwortung für die staatliche Aufgabenerfüllung und -finanzierung nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz
3.1 Das Mandat
Am 21. Juni 2024 kommunizierten Bundesrat und KdK ihren Entscheid, die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen umfassend neu zu überprüfen und Vorschläge für eine Aufgabenentflechtung zu erarbeiten. Das Projekt «Entflechtung 27 – Aufgabenteilung Bund-Kantone»19 ist wesentlich breiter angelegt als das oben beschriebene Vorgängerprojekt. Die Überprüfung wird ergebnisoffen angegangen und umfasst insgesamt 21 Aufgabengebiete:
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Individuelle Prämienverbilligung (IPV)
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Ergänzungsleistungen (EL)
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Beiträge an private Organisationen der Alters- und Invalidenhilfe
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Regionaler Personenverkehr (RPV)
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Finanzierung Bahninfrastruktur (BIF)
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Hochschulen
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Berufsbildung
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Ausbildungsbeiträge im Tertiärbereich
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Sportförderung
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Musikalische Bildung
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Agglomerationsverkehr
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Gesundheit allgemein
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Energie
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Straf- und Massnahmenvollzug
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Polizeibereich
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Bevölkerungsschutz
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Botschaftsschutz
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Wohnbauförderung
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Geobasisdaten
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Strukturverbesserungen/Meliorationen in der Landwirtschaft
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Heimatschutz und Denkmalpflege
Das Ziel des Projekts «Entflechtung 27» besteht in einer klaren Zuweisung der Verantwortung für die staatliche Aufgabenerfüllung und -finanzierung nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz. Damit soll der Föderalismus gestärkt werden. Eine gemeinsame Projektorganisation von Bund und Kantonen wird in einer ersten Phase bis Ende 2025 Optionen für Aufgaben- und Finanzierungsentflechtungen in den 21 Aufgabengebieten vorschlagen und diese in einem Zwischenbericht darlegen. In einer zweiten Phase sollen bis Ende 2027 die ausgewählten Optionen vertieft, die notwendigen rechtlichen Anpassungen formuliert und die finanziellen Auswirkungen für Bund und Kantone in einer Globalbilanz aufgeführt werden. Diese soll ausgeglichen sein. Somit wird sichergestellt, dass Aufgabenverschiebungen für beide Staatsebenen insgesamt haushaltsneutral sind.
3.2 Die Projektorganisation
Das politische Entscheidgremium ist zusammengesetzt aus Vertretungen der betroffenen Departemente des Bundes und der Direktorenkonferenzen sowie einem Vertreter der Städte und Gemeinden und steht unter der Co-Leitung der EFD-Vorsteherin und des KdK-Präsidenten.
Das strategische Steuerungsorgan besteht aus der Vorsteherin des EFD und den Präsidenten von KdK und Finanzdirektorenkonferenz (FDK).
Die Projektleitung bestehend aus Vertretungen des Bundes und der Kantone stellt die operative Gesamtleitung und Koordination sicher, begleitet und unterstützt die Arbeitsgruppen in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht und erarbeitet Entscheidgrundlagen für die übergeordneten Organe.
Fünf Arbeitsgruppen erarbeiten Vorschläge (Optionen) für eine Neuordnung der Aufgabenteilung in den jeweiligen Aufgabenbereichen. Sie sind aus Vertretungen des Bundes und der Kantone sowie nach Bedarf aus externen Experten zusammengesetzt. (Arbeitsgruppe 1: Soziales und Gesundheit, Arbeitsgruppe 2: Verkehr, Arbeitsgruppe 3: Bildung und Kultur, Arbeitsgruppe 4: Sicherheit, Arbeitsgruppe 5: Volkswirtschaft und übrige Themen)
4. Herausforderungen und Erfolgsfaktoren
These IV: Ein Hauptziel des Föderalismus besteht in der möglichst effizienten Erfüllung staatlicher Aufgaben.
2015 zog der Rechtswissenschaftler Bernhard Waldmann von der Universität Freiburg i.Ü. einen im Vergleich zum Bundesrat deutlich kritischeren Schluss zur Wirkung der NFA und insbesondere der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz. Er plädierte für eine hinreichende gesetzliche Konkretisierung dieser beiden Prinzipien, damit sie mehr Wirkung entfalten könnten:
«Rund acht Jahre nach dem Inkrafttreten der NFA-Reform lässt sich mit einer gewissen Ernüchterung feststellen, dass diese Prinzipien ihre erwünschte Wirkung nicht erzielt haben. (…) Die für die bundesstaatliche Aufgaben- und Kompetenzaufteilung massgebenden Grundsätze der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz wären Garanten für die Bewahrung eines (substanziellen) Föderalismus. Ihre Wirkung können diese Grundsätze aber nur entfalten, wenn sie aus dem Dunstkreis rein politischer Handlungsmaximen herausgelöst und als Rechtsprinzipien einer hinreichenden Konkretisierung zugeführt werden. Ähnlich wie Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien sind auch die föderalen Prinzipien der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz entwicklungsoffen, abwägungsfähig und konkretisierungsbedürftig.»20
Dem gegenüber verfolgt der Bundesrat einen pragmatischen Ansatz. Zwar hat er 2014 im Postulatsbericht Stadler Kriterien aufgelistet, um zu beurteilen, ob eine Aufgabe gemäss Subsidiaritätsprinzip allein den Kantonen oder allein dem Bund zuzuordnen sei21. Aber wie in Kapitel 1 dargelegt, ist der Subsidiarität und der fiskalischen Äquivalenz aus Sicht des Bunderats primär im politischen Alltag Nachachtung zu verschaffen. Gleichzeitig stellte er fest, dass diesem politischen Alltag eine Tendenz zur Zentralisierung innewohne und dass es daher eine «Aufgabenüberprüfung II», also eine Art Update zu den im Rahmen der NFA vorgenommenen Aufgabenentflechtung, brauchen werde (siehe Kapitel 2.2). Mit dem Projekt «Entflechtung 27 – Aufgabenteilung Bund-Kantone» haben der Bundesrat und die KdK dieses Update lanciert.
Ein Hauptziel des Föderalismus besteht, wie erwähnt, in der möglichst effizienten Erfüllung staatlicher Aufgaben. Mit Blick auf die finanziellen Perspektiven von Bund und Kantonen kommt diesem Aspekt zunehmende Bedeutung zu. In den kommenden Jahren sehen sich jedenfalls beide Staatsebenen mit stark steigenden demografischen Kosten konfrontiert22. Umso mehr müssen sie ein Interesse daran haben, diese absehbaren Mehrausgaben möglichst effizient zu bewältigen. Gemäss Langfristperspektiven der öffentlichen Finanzen der Schweiz kommen bis 2060 allein im Gesundheits- und Langzeitpflegebereich Mehrkosten im Umfang von einem Prozent des BIP auf die Kantone zu23. Eine klare Verteilung von Kompetenzen und Finanzierung gibt ihnen den politischen Spielraum, diese Herausforderungen in der für sie geeignetsten Weise zu meistern.
Das Ziel des Projekts «Entflechtung 27» ist klar: Wir wollen den Föderalismus stärken und den Trend zur Zentralisierung und zum reinen Vollzugsföderalismus (mit immer mehr Bundesvorgaben) brechen. Thesenartig seien hier die Herausforderungen und Erfolgsfaktoren dargelegt, die über das Gelingen entscheiden werden.
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Es muss sich um ein gemeinsames Projekt von Bund und Kantonen handeln. Beide Seiten müssen das gleiche Verständnis des Projekts haben und sich auf gemeinsame Ziele und ein gemeinsames Vorgehen einigen.
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Bund und Kantone müssen die inneren Reihen schliessen. Es reicht nicht, wenn die KdK und der Bundesrat oder gar nur das federführende EFD die Aufgabenentflechtung vorantreiben. Der Bundesrat muss die Departemente und Bundesämter mitnehmen, die KdK die Fachdirektorenkonferenzen und die Kantonsregierungen. Nur so lässt sich verhindern, dass sich bremsende oder gar blockierende Allianzen bilden – etwa zwischen Fachdirektorenkonferenzen und einzelnen Departementen/Bundesämtern.
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Es braucht eine Projektorganisation, die diesen Einbezug der Betroffenen spiegelt. Einzubeziehen sind ausserdem Drittbetroffene, insbesondere Städte und Gemeinden.
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Am Schluss muss ein ausgewogenes Gesamtpaket resultieren. Das Projekt «Aufgabenüberprüfung II» dürfte auch daran gescheitert sein, dass es nur vier Bereiche für die Entflechtung vorsah und damit kaum Manövrierraum offenliess.
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Es sollte in einer Globalbilanz keine «Gewinner» und «Verlierer» geben. Bereits bei der NFA war daher die Haushaltsneutralität ein wesentlicher Grundsatz. Sie stellt eine Art selbst auferlegte politische Restriktion dar, ohne die eine Aufgabenentflechtung kaum möglich sein wird. Instrumente, um diese Haushaltsneutralität zu erreichen, sind insbesondere die Finanzausgleichsmechanismen sowie der Anteil der Kantone an der direkten Bundessteuer. Auf Stufe der einzelnen Kantone kann die Aufgabenentflechtung aber sehr wohl unterschiedliche Auswirkungen haben. Diese sind jedoch – analog zur NFA – ausserhalb der Globalbilanz anzugehen.
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Die Kantone müssen nicht nur ihre Autonomie verteidigen, sondern auch die Verantwortung für ihre Aufgaben übernehmen. Wenn sie Kompetenzen nach «Bundesbern» abgeben, nur weil der Bund ihnen die finanzielle Last abnimmt, sägen sie am Ast, auf dem sie sitzen (Stichwort: «Bettelföderalismus»).
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Und schliesslich noch das Schwierigste überhaupt: Die Selbstbeschränkung der Bundespolitik. Eine Mehrheit muss sich dazu bekennen, dass der Handlungsbedarf und die Wichtigkeit einer Aufgabe allein noch nicht ausreichen, um sie dem Bund zu übertragen. Föderalismus, Subsidiarität und fiskalische Äquivalenz dürfen nicht Worthülsen in politischen Sonntagspredigten und 1.-August-Ansprachen sein, sondern müssen uns als konkrete Handlungsmaximen im politischen Alltag dienen.
Wir haben es eingangs gesehen: Der schweizerische Bundesstaat ist das «Ergebnis einer zweihundertjährigen Entwicklung mit einem dauernden Hin und Her zwischen Staatenbund und Einheitsstaat, mit Auseinandersetzungen zwischen Föderalisten und Zentralisten (…)». Vor 20 Jahren ist es der Schweiz gelungen, diese Entwicklung mit der NFA im Sinne eines modernen Föderalismus fortzuschreiben. Mit dem Projekt «Entflechtung 27 – Aufgabenteilung Bund-Kantone» wollen wir an diesen Erfolg anknüpfen und dem Föderalismus einen weiteren Revitalisierungsschub verschaffen. Ich bin überzeugt, dass diese Organisationsform immer noch dem Staatsverständnis einer Mehrheit in diesem Land entspricht und einen wesentlichen Faktor für seinen Wohlstand darstellt.
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