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ZFS Nr. 6/2024
Ein Beitrag von RAin lic. iur. Christina Bundi[1]
1. Ausgangslage
Auf den ersten Blick betrachtet mag man sich fragen, was Staatsleitung mit Parlamentsdiensten zu tun hat, da Staatsleitung vermeintlich oft vor allem als Regierungsaufgabe aufgefasst wird. Staatsleitung gehört zweifellos zu einer wichtigen Regierungsaufgabe. Im Kanton Bern heisst es dazu in der Verfassung: «Der Regierungsrat bestimmt unter Vorbehalt der Zuständigkeiten des Grossen Rates die Ziele des staatlichen Handelns. Er plant und koordiniert die Tätigkeiten des Kantons» (Art. 86 KV).[2] Die Leitung eines Staatswesens obliegt damit auch massgeblich den Parlamenten. Sie sind in ihrer Funktion als Volksvertretung besonders dazu legitimiert, Grundsatzentscheide für die Entwicklung ihres Staatswesens zu fällen, insbesondere in der Rechtsetzung, bei den Finanzen und der Oberaufsicht (vgl. Art. 74 – 80 KV). In der Schweiz können sich überdies die Stimmberechtigten mittels Volksinitiativen und Referenden punktuell an Grundsatzentscheiden beteiligen. Dementsprechend lautet Artikel 1 des bernischen Grossratsgesetzes: «Der Grosse Rat erfüllt die ihm durch Verfassung und Gesetz übertragenen Aufgaben. Er trifft, unter Vorbehalt der Rechte des Volkes, die politischen Leitentscheide des Kantons».[3] Staatsleitung steht damit Regierung und Parlament gemeinsam zu, unter punktueller Mitwirkung des Volkes. Sie tragen je ihren Anteil dazu bei.
Zu den Aufgaben der Parlamentsdienste des Kantons Bern gehört es, den Grossen Rat, seine Organe und die Ratsmitglieder bei der parlamentarischen Arbeit zu unterstützen. Dies beschränkt sich nicht auf administrative Arbeiten wie etwa die Führung der Sekretariate des Büros des Grossen Rates und der Kommissionen, sondern umfasst auch die Beratung in Verfahrens-, Rechts- und Sachfragen sowie die Vorbereitung parlamentseigener Projekte, Vorlagen und Geschäfte.[4] Insbesondere hat der Generalsekretär des Grossen Rates eine beratende Stimme im Büro – dem politischen und strategischen Leitungsorgan des Grossen Rates.[5] Den Parlamentsdiensten obliegt es damit auch, den Grossen Rat bei seinen Staatsleitungsaufgaben zu unterstützen. Sie setzen sich folglich auch für institutionelle Aspekte ein.
2. Beispiele
Der Rechtsdienst des Grossen Rates als Teil der Parlamentsdienste des Kantons Bern befasst sich immer wieder mit grundsätzlichen staatsrechtlichen Fragestellungen und dies in einem ausgesprochen politischen Umfeld.
Betroffen sein kann einerseits der Grossen Rat im Verhältnis zu anderen Behördenstellen oder Privaten (Ziff. 2.1). Andererseits kann es um ratseigene, interne Belange gehen (Ziff. 2.2). Auch in diesen Fällen ist im gesamtstaatlichen Interesse auf korrekte Abläufe und Verfahren zu achten. Folgende Beispiele veranschaulichen dies und führen zu den anschliessenden Thesen.
2.1 Einsatz für Grossen Rat und Kanton
These 1: Die Aufgaben der verschiedenen Behörden sind allgemein ausreichend bestimmt. Das Gemeinwohl verlangt, dass sich die verschiedenen Akteure auch in konkreten Fällen konsequent für die Institutionen sowie für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einsetzen.
Aufgabe der Parlamentsdienste und des Rechtsdienstes des Grossen Rates war es, die gesetzgeberischen Arbeiten vorzubereiten und dem Rat und seinen Organen nötigenfalls in staatsrechtlichen Fragen den Rücken zu stärken. Denn wer solche Änderungen nicht möchte, argumentiert gern rechtlich. Beispielsweise hiess es, Staatsführung in Krisenzeiten müsse – aus «der Natur» der Verfassungsvorgaben bzw. gemäss den «Säulen unseres gewaltenteiligen Rechtsstaats (Art. 66 Abs. 1 KV)»[11] – hauptsächlich beim Regierungsrat sein und dies dürfe nicht in Frage gestellt werden, was so freilich unzutreffend ist.[12] Der bernischen Verfassung liegt vielmehr ein kooperatives Gewaltenteilungsverständnis zu Grunde. Der Verfassungsgeber hat namentlich «Regierung und Parlament als zwei starke, partnerschaftlich zusammenwirkende Organe» ausgestaltet.[13]
Unmittelbar nach Inkraftsetzung der Vorlage schlug der Regierungsrat im Rahmen einer Totalrevision eines anderen Erlasses vor, eine der wesentlichen Änderungen des Grossen Rates wieder rückgängig zu machen – konkret die vorgängige Konsultationspflicht der Finanzkommission zu geplanten «Notausgaben».[14] Dank eines parlamentarischen Antrags auf Ergänzung der Vorlage im Sinne des Grossen Rates scheiterte dieses Ansinnen allerdings.[15]
These 2: Die rechtliche Unterstützung von Parlamenten braucht Unabhängigkeit, Ausdauer und Stehvermögen, vor allem aber auch einen klaren rechtsstaatlichen, demokratischen und institutionellen «Werte-Kompass».
2.2 Einsatz gegenüber Grossem Rat
Die Rechtsstaatlichkeit ist auch in ratseigenen Belangen zentral, wie folgende Beispiele zeigen.
Ähnliches zeigte sich im Zusammenhang mit der Zertifikatspflicht. Beantragt wurde vor der Herbst-Session 2021 vereinzelt, der Zutritt zum Rathaus sei nur unter Vorweisung des Covid-Zertifikats zuzulassen, d.h. der Dokumentation einer erfolgten Covid-Impfung, einer durchgemachten Krankheit oder des Vorliegens eines negativen Testresultats. Auch hierfür fehlten allerdings die erforderlichen Rechtsgrundlagen. Und Hinweise, in anderen Parlamenten würde dies genau so gehandhabt, erwiesen sich allesamt als unzutreffend. Grossratsmitglieder konnten sich ausserdem laufend im Rathaus testen lassen und auf Wunsch hin mit ausreichendem Abstand sitzen.[19] Das Festhalten an rechtsstaatlichen und demokratischen Vorgaben und Verfahren ist auch in Krisenzeiten essenziell.
These 3: Ob rechtliche Hinweise bei Betroffenen eher als Gewinn oder Last empfunden werden, hängt stark von der politischen Kultur ab, insbesondere ob die Bereitschaft besteht, ein Ziel nicht mit allen Mitteln erreichen zu wollen.
3. Würdigung
Die Ausführungen zeigen, dass der Einsatz für unsere Institutionen auch im Kleinen, in einem Rechtsdienst eines Parlamentes wichtig ist. Dabei kann nicht genug betont werden, dass es bei alledem darum geht, die Institutionen als Ganzes zu stärken, als gemeinsames Ziel aller an der Staatsleitung beteiligten Akteure – zum Wohl der ganzen Bevölkerung.
Hinweis: Zur Zitierfähigkeit wird auf dieses Dokument verwiesen ZFS_Nr6_Bundi (PDF, 84 KB)
[1] CHRISTINA BUNDI CALDELARI (1971), lic.iur., Rechtsanwältin, Bern; ab 2000 Assistentin bei Prof. Dr. A. Kölz am Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Verfassungsgeschichte der Universität Zürich und Juristin im Rechtsdienst der Staatskanzlei des Kantons Bern (zuletzt als dessen Leiterin), 2008 – 2010 persönliche Mitarbeiterin der Bundeskanzlerin, seit Mai 2010 Stellvertreterin des Generalsekretärs des Grossen Rates und Leiterin des Rechtsdienstes des Grossen Rates des Kantons Bern. Regelmässige Publikationen zu parlamentsrechtlichen Themen.
[2] Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 (KV [BSG 101.1]).
[3] Gesetz vom 4. Juni 2013 über den Grossen Rat (Grossratsgesetz, GRG [BSG 151.21]).
[4] Artikel 91 GRG.
[5] Artikel 23 GRG. Der Generalsekretär trägt überdies die Gesamtverantwortung für die Parlamentsdienste.
[6] Grosser Rat und Öffentlichkeit werden im Übrigen von den Aufsichtskommissionen mittels Berichten durchaus über das Ergebnis solcher Untersuchungen informiert. Diese Ergebnisse sind selbstverständlich auch Medienschaffenden oder anderen Behördenstellen zugänglich. «Spezialbehörden» verfügen zudem über eigene Verfahrensbefugnisse, welche es ihnen erlauben, die nötigen Abklärungen selbst vorzunehmen. In den betroffenen Fällen gingen diese Befugnisse sogar viel weiter als jene von parlamentarischen Oberaufsichtsorganen, weshalb eine Aktenzustellung für solche Verfahren zum Vornherein gar nicht notwendig ist.
[7] Die Bestimmung lautete: «[geltendes Recht] Der Kanton kann Finanzhilfen an Gebäudeanpassungen gewähren, wenn … [neu] … und die Anforderungen von Artikel 39b erfüllt ist.» Es ist offensichtlich, dass die Stimmberechtigten bei dieser Bestimmung nicht wüssten, worüber sie abstimmten. Es bliebe unklar, was sich hinter dem Verweis auf das geltende Recht verbergen würde und wofür die Leerzeichen stünden.
[8] Vgl. Rechtsgutachten von Prof. Andreas Glaser zur Frage der Gültigkeit einer Bestimmung der «Berner Solar-Initiative»: <https://www.rrgr-service.apps.be.ch/api/gr/documents/document/28185d2b94fe4c45a932f7515f89a274-332/1/2021.STA.458-Beilage-DF-281947.pdf>. Gemäss Gutachter wäre es auch möglich gewesen, die Initiative vollständig gültig zu erklären und dass die Redaktionskommission den Initiativtext dann im Hinblick auf die Volksabstimmung vorgängig textuell zu ergänzen hätte, da der Inhalt der Bestimmung im vorliegenden Fall durch Auslegung eindeutig habe ermittelt werden können. Demnach hätte die Bestimmung wie folgt gelautet: “Der Kanton kann Finanzhilfen an Gebäudeanpassungen gewähren, wenn eine Verbesserung um mindestens zwei Effizienzklassen des Gebäudeenergieausweises der Kantone erzielt wird und die Anforderungen von Artikel 39b erfüllt ist».
[9] Vgl. für detailliertere Hinweise zu dieser Vorlage: Christina Bundi Caldelari «Kanton Bern – Stärkung von Demokratie und Rechtsstaat», in: Parlament, Parlement, Parlamento, Mitteilungsblatt der Schweizerischen Gesellschaft für Parlamentsfragen, 2024, Nr. 1, S. 32 – 37: <https://sgp-ssp.net/wp-content/uploads/parlament-2024-1.pdf>.
[10] Notausgaben» meint hier diejenigen Ausgaben, welche der Regierungsrat im Kanton Bern in Fällen zeitlicher Dringlichkeit bei Notlagen und dergleichen seit Langem gestützt auf Artikel 80 Absatz 1 des Kantonalen Bevölkerungsschutz- und Zivilschutzgesetzes vom 19. März 2014 (KBZG, BSG 521.1]) ohne obere Grenze in alleiniger Kompetenz bewilligen kann (d.h. unter Ausschluss von Finanzreferenden oder Beschlüssen des Grossen Rates). Früher erfolgte bei solchen «Notausgaben» einzig eine nachträgliche Information der Finanzkommission.
[11] Artikel 66 Absatz 1 KV besagt einzig, dass sich die Organisation der Behörden nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung richtet und keine Behörde staatliche Macht unkontrolliert und unbegrenzt ausüben darf.
[12] Vgl. zum Ganzen auch: Vernehmlassungsauswertung der Vorlage:<file:///C:/Users/mb5j/Downloads/auswertung-vernehmlassung-staerkung-demokratie-rechtsstaat.pdf>.
[13] Vgl. Urs Bolz, in: Walter Kälin/Urs Bolz (Hrsg.): Handbuch des bernischen Verfassungsrechts, Bern 1995, Kommentar zu Art. 66 KV, Ziff. 3a, S. 422.
[14] Vgl. Artikel 69 Absatz 3 des neuen Erlasses und Vortrag dazu mit unzutreffenden Hinweisen zur angeblich geltenden Rechtslage: <https://www.rrgr-service.apps.be.ch/api/gr/documents/document/b34d53a440944e8480addf06465ac475-332/2/2022.SIDBSM.935-Antraege_Regierung_und_Kommission_erste_Lesung-D-291683.pdf > / < https://www.rrgr-service.apps.be.ch/api/gr/documents/document/5a78e215264d416390bec7a0e76f7dd3-332/1/2022.SIDBSM.935-Vortrag-D-285596.pdf>.
[15] Eine Kernaufgaben des Regierungsrates ist es, Beschlüsse des Grossen Rates zu vollziehen und nicht, solche gleich wieder rückgängig zu machen (vgl. Art. 90 Bst. d KV).
[16] Im November 2021 wurden solche Grundlagen geschaffen (u.U. sind ausnahmsweise Abstimmen von extern und Zirkulationsverfahren im Grossen Rat sowie virtuelle Sitzungen von Ratsorganen möglich [Art. 77a GRG, Art. 77b GRG sowie Art. 108a der Geschäftsordnung des Grossen Rates vom 4. Juni 2013, BSG 151.211]).
[17] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101).
[18] Und ein Gesuch des Büros des Grossen Rates an den Regierungsrat vom November 2020, er möge per Notverordnung Grossratsmitgliedern Abstimmen von extern ermöglichen, lehnte der Regierungsrat – angesichts der restriktiven Voraussetzungen für Notverordnungsecht – ab (vgl. Hinweise im Zusammenhang mit einer anderen Vorlage: Vortrag des Büros vom 15. November 2021 an den Grossen Rat, Ziff. 2, S. 3 f. <https://www.rrgr-service.apps.be.ch/ api/gr/documents/document/a9993049fca54403b4f8acd6457aaa1f-332/1/Vortrag-de.pdf>).
[19] In der Zeit von Juni 2020 – Juni 2021 führte der Grosse Rat fünf Sessionen nicht im Ratssaal des Rathauses durch, sondern in der viel grösseren Festhalle der Bernexpo; dies ermöglichte es allen, grosse Abstände zu wahren.
[20] Beispielsweise sind nach bernischer Verfassung einzig Grossratsmitglieder, der Regierungsrat und punktuell noch die Justizverwaltungsleitung im Grossen Rat antragsberechtigt (Art. 82 KV, Art. 83 Abs. 1 KV, Art. 83a Abs. 1 KV). Ein Antragsrecht von Jugendlichen im Grossen Rat (z.B. mittels Motion) bedürfte deshalb einer Verfassungsänderung, ähnlich wie auch die in gewissen Kantonen bestehende «Volksmotion» jeweils über eine Verfassungsgrundlage verfügt. Hinweise zur Rechtsstufe sind für die politische Diskussion insofern erhellend, dass sich eine an sich erwünschte Änderung dann möglicherweise als doch nicht gewollt erscheint. Zu dieser Ansicht kann gelangen, wer z.B. findet, das nötige Verfahren wäre zu umständlich oder zu lang und in der Folge einer etwas weniger weit gehenden Lösung den Vorzug gibt. Oder man kann im Falle einer Verfassungsänderung zur Überzeugung gelangen, dass eine Volksabstimmung nicht zu gewinnen wäre und aus diesem Grund ein ursprüngliches Anliegen fallen lassen bzw. eine andere Lösung anstreben.