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Rechtswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl Glaser

Staatsleitung in der Schweiz: Fahrt durch ein Labyrinth

ZFS Nr. 1/2024
 
Ein Beitrag von alt Bundesrat Dr. h.c. Kaspar Villiger1
 
 
«Glückliche Ereignisse haben mich an die Spitze der französischen Regierung berufen, und doch würde ich mich für unfähig halten, die Schweizer zu regieren.»
 
Napoleon Bonaparte an den Ausschuss der helvetischen Consulta am 12. Dezember 1802
 
1. Einführung
 
In Anlehnung an den bedeutenden Schweizer Staatsrechtler Kurt Eichenberger kann man die Staatsleitung als die Gesamtheit der staatlichen Tätigkeiten definieren, die darauf abzielen, ein Staatswesen zu lenken und zu gestalten. Sie umfasst insbesondere die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung. Aufgabe der Gesetzgebung ist im Wesentlichen die Schaffung eines klaren und kohärenten Rechtsrahmens als Grundlage der staatlichen Ordnung, aber ebenso zentral sind die Setzung der politischen Ziele, die strategische Planung und die Entscheidfindung auf höchster Ebene. In der Demokratie unverzichtbar sind ferner die Legitimierung der demokratischen Prozesse und die Akzeptanz der Entscheide durch die Bevölkerung. Eichenbergers Verständnis von Staatsleitung ist somit umfassend und integriert die verschiedenen Dimensionen staatlicher Tätigkeit, die zusammen das Funktionieren und die Stabilität des Staates sicherstellen müssen.2 Um das Auswuchern des Staates zum despotischen Leviathan zu verhindern, bedürfen die staatsleitendenden Tätigkeiten der Kontrolle. Der britische Ökonom Tim Besley von der London School of Economics ist zum Schluss gekommen, dass das Risiko eines Staates, in einen dramatischen wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Absturz zu geraten, umso grösser ist, desto weniger die Exekutive kontrolliert ist.3 Deshalb wurde in der Demokratie das geniale Instrument der Gewaltenteilung erfunden. Es erstaunt nicht, dass zur Autokratie neigende Populisten in Demokratien deshalb als erstes diese Gewaltenteilung aufs Korn nehmen. Besleys These wird zurzeit von Russland bestätigt. Putin treibt sein Land sogar dann in eine für Jahre katastrophale Situation, wenn er diesen Krieg gewinnen sollte. Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat eine weitere Erkenntnis formuliert, die sich zurzeit in einigen Ländern zu bestätigen scheint. Das Einzige, was eine Demokratie gefährden könne, schrieb er einmal, sei eine lange andauernde wirtschaftliche Stagnation oder Rezession.4 Für die Staatsleitung bedeutet dies, dass eine Wirtschaftspolitik betrieben werden muss, die langfristig Wohlstand für alle schafft.
 
So klein die Schweiz auch ist, als so komplex erweist sich die von Eichenberger geforderte Integration der verschiedenen Dimensionen der Staatsleitung. Deshalb kann die Bündelung der divergierenden politischen Kräfte zu einem erfolgreichen Gemeinwesen durchaus mit dem Marsch durch ein Labyrinth verglichen werden. Der Grund liegt darin, dass die Schweiz eine schwierige und fragile Nation ist. Konfessionelle, sprachliche, ethnische, demographische, historische, geografische, klimatische und ökonomische Gräben zerklüften die politische Landschaft kreuz und quer. Streitlust und Eigensinn prägen den Volkscharakter. Trotzdem ist die Schweiz nach der liberalen Revolution vor 175 Jahren zu einem der erfolgreichsten Staaten überhaupt geworden. Peter von Matt hat die politische Leistung der Schweiz auf eine einprägsame Formel gebracht: die Kunst des politischen Kompromisses, die verhinderte Machtballung bei Einzelpolitikern sowie die überproportionale Förderung der Minderheiten. Es gebe nichts, schreibt er weiter, was die Welt heute dringlicher brauche, als das politische Know-how der Schweiz, ihre in Jahrhunderten entwickelte Versöhnungskultur.5 Man kann die Schweiz durchaus als eine Art politisches Labor betrachten, das eigenwillige Mechanismen entwickelt hat, die das erfolgreiche Zusammenleben von Verschiedenem begünstigen, und die sich grundlegend von anderen Ausprägungen demokratischer Ordnungen unterscheiden.
 
2. Ein Blick auf die Wissenschaft
 
Bevor ich aber auf das Schweizer Politikmodell eingehe, will ich einige wichtige politikwissenschaftliche und ökonomische Erkenntnisse kurz zusammenfassen. Zuerst zu den politikwissenschaftlichen6:
 
1. Angemessene Polarisierung ist zum Funktionieren von Demokratie nötig. Sie ermöglicht den Bürgern die Auswahl zwischen politischen Optionen. Zu starke Konvergenz der Parteien eröffnet Raum für Alternativen, was zur Abwanderung von den Konvergenzparteien führt.
2. Mitte des 20. Jahrhunderts war die politische Landschaft der Demokratien durch die Kluft liberal-konservativ versus sozialistisch genauso polarisiert wie heute. Diese Polarisierung wurde durch wachsenden Wohlstand, ausgleichende Umverteilung und ordnende Regulierung befriedet, worauf sich die Parteien einander annäherten.
3. Als Folge struktureller Verschiebungen wie zunehmende Bildung, Deindustrialisierung, Lockerung familiärer Bindungen, Urbanisierung, Feminisierung u.dgl. entstanden neue Gräben. Die Konvergenz der grossen Volksparteien schuf an den Rändern Raum für radikale Parteien, die Anteile gewannen. Die Polarisierung nahm wieder rasch zu, und an den Rändern entstanden Parteien, welche die neuen Gräben bewirtschafteten: Die neue Linke mit internationaler Solidarität, Gendergleichheit, Umweltschutz, Migrationstoleranz etc., die Rechte mit Rückzug auf die Scholle, Fremdenfeindlichkeit, Nationalismus etc. Populisten sind nicht Ursache der Polarisierung, aber sie nutzen sie für ihre Zwecke, bewirtschaften sie aktiv und verstärken sie damit.
4. Systeme, welche Kompromisse begünstigen und die Verlierer entschädigen, können auch in polarisierten Gesellschaften funktionieren. Wenn aber keine Seite nachgibt, wird das System beschädigt. Die Demokratie gerät dann in Gefahr, wenn eine radikale Seite Exekutivkraft bekommt und die Institutionen zu ihrem Nutzen umgestaltet, also z.B. die Gewaltenteilung aufhebt oder die Medien manipuliert. Hier sind Präsidialsysteme gefährdeter als parlamentarische Systeme, und Zweiparteiensysteme gefährdeter als proportionale Systeme. Drei deutsche Ökonomen haben mit einer Analyse der Wirtschaftsentwicklung von 60 Staaten über 120 Jahre nachgewiesen, dass Populisten, die in Demokratien an die Macht kommen, enormen wirtschaftlichen Schaden anrichten: Ca. 10 Prozent weniger Wirtschaftsleistung nach 15 Jahren, steigende Ungleichheit und als Verlierer untere und mittlere Einkommensklassen, die zu vertreten sie vorgeben. Dabei sind diese Konsequenzen bei Links- und Rechtspopulisten die gleichen.7
5. Die Schweiz war Mitte des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts ausgesprochen polarisiert. Stichworte sind etwa Sonderbundskrieg (konfessionell polarisiert) oder Generalstreik 1918 (sozial polarisiert). Die Institutionen wirkten integrierend, mit einem Friedensabkommen wurden erbitterte soziale Auseinandersetzungen beendet, der Wohlstand stieg. Eine fast modellhafte Konsensdemokratie entstand. Der geschilderte Strukturwandel führte aber auch bei uns zu einer Erosion des Konsenses. Die mittleren Volksparteien begannen zu schrumpfen, und die Ränder, links-grün versus SVP, legten markant zu. Heute ist die Schweiz eines der polarisiertesten Länder Europas. Weil die Polparteien gemerkt haben, dass man mit eingängigen vermeintlichen Wahrheiten, auf denen man kompromisslos beharrt und die man gebetsmühlenartig wiederholt, Wahlen gewinnen kann, ist ihr Interesse an Wahlerfolgen offensichtlich grösser als an Lösungen. Daraus hat sich eine Kompromissresistenz entwickelt, die zu einem eigentlichen Reformstau in wichtigen Bereichen geführt hat.
6. Interessant ist, dass die Schweiz ziemlich gleich polarisiert ist wie die USA. Aber Untersuchungen zeigen fundamentale Unterschiede: In den USA führt die Polarisierung zu äusserst negativen Emotionen gegenüber dem politischen Gegner, in der Schweiz führt sie zu einer stärkeren emotionalen Bindung an die eigene Seite. Wozu das in den USA mit ihrem Zweiparteien-Präsidialsystem führt, erleben wir zurzeit. Auf die diametral unterschiedlichen Mechanismen in der Schweiz werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.
 
Dass nur Marktwirtschaft Wohlstand für alle schaffen kann, ist derart evident, dass man eigentlich meinen sollte, dies sei politisch unbestritten. Und doch erleben wir in allen Demokratien – auch bei uns! – alltäglich mehr oder weniger offene Attacken auf diese Errungenschaft. Allerdings braucht auch Marktwirtschaft einen soliden staatlichen Rahmen. Der altmodische, aber zentrale Begriff dafür ist Ordnungspolitik. Man kann sich dabei an Walter Eucken orientieren, der zusammen mit anderen Ökonomen die wissenschaftlichen Grundlagen des von Ludwig Erhard durchgesetzten deutschen Wirtschaftswunders erarbeitet hatte. Er nannte sechs für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik wegleitende Prinzipien8:
 
1. Eine stabile Währung als Rückgrat.
2. Ein funktionsfähiges Preissystem, in dem frei veränderliche Preise Informationen über die Knappheit der Güter übermitteln.
3. Privateigentum, weil nur Unternehmer, die Gewinne einbehalten können, die Kosten möglichst tief halten.
4. Vertragsfreiheit im Rahmen einer freiheitlichen Gesetzgebung.
5. Prinzip der Haftung, wonach wer Gewinne behalten will, auch Verluste tragen muss.
6. Wettbewerb durch offene Märkte, um für Konsumenten tiefe Preise zu sichern (Verhinderung von Monopolen und Kartellen).
 
Der Staat muss auch nach Eucken wichtige Kollektivgüter bereitstellen, aber nicht die wirtschaftliche Entwicklung zu Gunsten bestimmter Unternehmen oder Branchen lenken, wie das mit der sogenannten Industriepolitik immer wieder versucht wird. In einer Demokratie werden diese Prinzipien immer von Interessengruppen – selbstverständlich im Gewande des Gemeinwohls – bestritten werden, so dass der Kampf für deren Respektierung nie zu Ende ist. Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz beruht auf einer hinreichenden Beherzigung dieser Prinzipien, aber das Bewusstsein dafür scheint eher abgenommen zu haben.
 
3. Die Volksrechte
 
Ein zentrales Identitätsmerkmal unserer politischen Kultur ist das Recht des Volkes, an der Urne über wichtige Sachfragen zu entscheiden. Allerdings ist auch die Schweiz grundsätzlich eine repräsentative Demokratie. Die Gesetze und Rechtserlasse werden von den zuständigen demokratisch gewählten Behörden vorbereitet und beschlossen. Aber das Volk verfügt mit dem Gesetzesreferendum über die Möglichkeit, ein Veto einzulegen und behördliche Entscheide zu korrigieren, und es kann mit dem Mittel der Volksinitiative ein Problem politisch traktandieren, eine politische Idee einbringen und einen Urnenentscheid erzwingen. Diese Volksrechte verändern die politischen Prozesse grundlegend gegenüber rein parlamentarischen Demokratien. Das Referendum schwebt als Mahnung über dem gesamten staatlichen Handeln und beeinflusst es. Die Volksinitiative zwingt zur Befassung auch mit missliebigen Themen. Dabei sind diese Volksrechte in der Verfassung klar geregelt. Ob eine Frage dem Volk zum Entscheid unterbreitet wird oder nicht, liegt nicht etwa im gnädigen Belieben eines Präsidenten oder eines Parlamentes. Und wenn das Volk entschieden hat, ist der Entscheid verbindlich.
Karl Schmid, einer der grossen politischen Denker der Schweiz des 20. Jahrhunderts, erkannte in der allgemeinen Befassung der Bürger mit dem Staate, also der Sorge aller um das Gemeinwesen, den fundamentalen Unterschied zur politischen Kultur anderer europäischer Staaten, welche die öffentliche Sache an eine politische oder militärische Klasse delegierten9. Also bottom up und nicht top down.
 
Es soll zunächst auf die einschneidenden Folgen der direktdemokratischen Volksrechte auf das Verhalten von Volk, Politik und Zivilgesellschaft eingegangen werden.
 
3.1. Die Auswirkungen der Volkrechte auf das Volk
Beim Volk sehe ich im Wesentlichen vier Auswirkungen: Erstens sammelt sich im Volk über die Jahre ein beachtliches Wissen über politische Zusammenhänge an. Man schätzt, dass etwa 30% der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger regelmässig auf allen drei bundesstaatlichen Ebenen an den zahlreichen Abstimmungen teilnehmen. Das ist, wenn man so sagen darf, eine eindrückliche politische Elite, die sich mit allen politisch relevanten Fragen befasst.
Zweitens geben die Volksentscheide den angenommen Vorlagen hohe politische Legitimität. Wir wissen von der Verhaltenspsychologie, dass Menschen Entscheide besser akzeptieren und befolgen, wenn sie an einem fairen Entscheidungsfindungsprozess teilhaben konnten, und zwar sogar dann, wenn der Entscheid anders ausgefallen ist, als sie es bei der Teilhabe vertraten. Dieser Effekt gibt der direkten Demokratie ihre integrierende Wirkung.
Drittens haben die Volksrechte eine integrierende Wirkung auch auf Minderheiten. Diese können auch gegen den Willen der Mehrheit ein politisches Problem traktandieren, sei es durch ein Referendum oder durch eine Volksinitiative. Die Medien berichten breit darüber, angefangen bei der Lancierung bis zur Einreichung der Unterschriften und zur Diskussion im Vorfeld der Abstimmung. Diese breite öffentliche Diskussion sensibilisiert die Öffentlichkeit für das der Vorlage zu Grunde liegende Problem. Die Minderheit fühlt sich ernst genommen. Die vierte Wirkung liegt in einem fast unbewussten, schwer fassbaren Bereich. Das Bewusstsein, bei wichtigen Sachfragen das letzte Wort zu haben und «denen da oben in Bern» auch einmal die gelbe oder rote Karte zeigen zu können, führt zu einem anderen Staatsverständnis. Man ist nicht einfach einem anonymen und dominanten Staat ausgeliefert, sondern man gehört einem politischen Verbund an, in welchem man mitbestimmt. Daraus entsteht ein anderes staatsbürgerliches Selbstverständnis, ja Selbstbewusstsein. Bruno S. Frey, einer der bedeutenden Schweizer Ökonomen, konnte nachweisen, dass Menschen in direkten Demokratien glücklicher als in repräsentativen sind.10
 
3.2. Die Auswirkungen auf die Arbeit der Behörden und auf die Zivilgesellschaft
Die Arbeit der Behörden wird durch die permanente Referendumsdrohung signifikant beeinflusst. Das wird in drei Bereichen besonders sichtbar.
Der erste Bereich betrifft den Gesetzgebungsprozess im weitesten Sinne. Allen Beteiligten ist stets bewusst, dass Verfassungsbestimmungen und Gesetze letztlich mehrheitsfähig sein müssen. Das perfekteste Gesetzt ist Makulatur, wenn es vom Volk verworfen wird. Natürlich wird man zuerst versuchen, ein Referendum zu vermeiden. Deshalb sind ausgeklügelte Meinungsbildungsverfahren im Vorfeld der parlamentarischen Behandlung entwickelt worden, allem voran die Vernehmlassung bei Kantonen, Parteien, Verbänden und anderen Organisationen. Sie geben Hinweise auf Akzeptanz, Pferdefüsse und Vollzugstauglichkeit. Aber weil man nie weiss, ob eben nicht doch ein Referendum kommt, wird neben der parlamentarischen Mehrheitsfähigkeit auch die potentielle Volksmehrheit im Auge behalten. Selbstverständlich beeinflusst die Referendumsdrohung auch die Parlamentsarbeit. Häufig werden Kompromisse die Folge dieses langwierigen Feilens an Gesetzen sein. Es ist aber beileibe nicht so, dass die Referendumsdrohung nur zu opportunistischen Zugeständnissen etwa auf der Basis von Umfragen führte. Auch eine Referendumsdemokratie bedarf der Führung. Das Volk hat schon vielen Vorlagen zugestimmt, deren Umfrageergebnisse anfänglich miserabel waren (und umgekehrt!). Umfragen sind Momentaufnahmen. Das Volk indessen bildet seine Meinung im Laufe eines längeren politischen Prozesses.
Das führt zu einem zweiten Bereich, der Kommunikation. Wenn sich das Stimmvolk über eine Vorlage ein zureichendes Urteil soll bilden können, muss es nicht nur die eigentliche Gesetzesvorlage beurteilen können, sondern es muss diese auch in die breiteren politischen und ökonomischen Zusammenhänge einzuordnen in der Lage sein. Das schafft auch behördlicherseits einen breiten Kommunikationsbedarf, und zwar in allen Phasen des Gesetzgebungsprozesses. Hier haben die Medien eine wichtige Rolle. Natürlich ist dieser Kommunikationsprozess meist von schrillen Dissonanzen begleitet. Kontroverse Meinungen prallen aufeinander, interessierte Kreise vertreten lautstark ihre Partikularegoismen. Dabei sind die Spiesse ungleich: Während die Parteien und Interessenvertreter beliebig auch polemisieren dürfen und es mit der Wahrheit nicht immer genau nehmen, muss die behördliche Information den Anforderungen der Objektivität, Wahrheit, Ausgewogenheit und Fairness genügen. Das macht sie langweiliger, aber das muss sie akzeptieren. Zum Bereich der Kommunikation gehört auch, dass aus den häufigen Volksabstimmungen eine permanente politische Rechenschaftspflicht der gewählten Volks- und Regierungsvertreter erwächst. Sie müssen ihre Haltung permanent vertreten und erklären, an Versammlungen, an Podiumsgesprächen, an Fernsehsendungen oder in Interviews, sie müssen sich kritischen Fragen stellen und Farbe bekennen.
 
3.3. Das Nebeneinander von Wahlen und Volksabstimmungen
Der dritte Bereich besteht aus den Folgen des Nebeneinanders von Wahlen und Sachabstimmungen. Zunächst ist festzuhalten, dass das Volk mit der Möglichkeit zur Ablehnung von Sachvorlagen selber in die Rolle der Opposition schlüpfen kann. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Schweiz so lange mit einer Mehrparteienregierung leben konnte, welche über zwei Drittel der Parlamentssitze repräsentiert. Das Volk muss nicht die ganze parteipolitische Landschaft umpflügen, um die Richtung der Politik zu beeinflussen. Zudem verlaufen die Ja-Nein-Grenzen bei Sachabstimmungen nicht immer entlang den Parteigrenzen. Das alles führt dazu, dass das Resultat von Wahlen die Politik weniger beeinflusst als in parlamentarischen Demokratien. Sie werden deshalb auch als weniger wichtig und als langweiliger empfunden. Weil das so ist, versuchen gewisse Parteien und Medien so zu tun, als hätten wir ein Konkurrenzsystem mit Regierung und Opposition, um mehr Spannung in den Wahlkampf zu bringen. Diese Mediatisierung der Politik fördert allerdings auch in der Schweiz die Polarisierung. Das erschwert die Kompromissfindung und benachteiligt die besonders wertvollen, differenzierten und eher stillen politischen Schaffer, deren leise Töne im lauten Gezänk unterzugehen drohen.
 
3.4. Auswirkung auf Verbände und NGO
Auch die Arbeit der Verbände und Nichtregierungsorganisationen wird von der Referendumsdemokratie geprägt. Viele von ihnen sind finanziell und organisatorisch in der Lage, Referenden zu ergreifen und Volksinitiativen zu lancieren. Sie können damit ihre Partikularinteressen direkt in die Politik einbringen. Die Volksrechte offerieren also der Zivilgesellschaft hervorragende Möglichkeiten, Einfluss auf die Politik zu nehmen und ihre Ideen dem Volk zur Stellungnahme zu unterbreiten.
 
4. Der Föderalismus
 
Der Föderalismus ist der dritte unverzichtbare Pfeiler unserer politischen Kultur. Er hat vier zentrale Funktionen:
 
1. Er bändigt die Staatsmacht durch deren Aufteilung auf die drei Ebenen Gemeinde, Kanton und Bund.
2. Er führt zu einem kreativen Wettbewerb der Systeme: Zwischen Gliedstaaten besteht ein innovativer Wettbewerb der politischen Ideen, und was sich in einem Kanton bewährt, hat die Chance, von andern übernommen zu werden. So wurden beispielsweise die Volksrechte auf Bundesebene nicht schon 1848 eingeführt, sondern erst 1874 bzw. 1891, nachdem sie sich in vielen Kantonen bewährt hatten. Der Steuerwettbewerb übt Druck in Richtung eines optimalen Preis- Leistungsverhältnisses auch beim Staat aus und ist ein wichtiges Element des Erfolgs der Schweiz.
3. Regionen und Minderheiten können ihr engeres politisches Umfeld gemäss ihren Präferenzen selber gestalten. Damit können sie ihre politische Identität besser bewahren.
4. Durch die grössere Bürgernähe wird das Gemeinwesen besser kontrollierbar, und die Staatsleistungen werden bedarfsgerechter.11
 
Damit die Vorteile des Föderalismus zum Tragen kommen, müssen zwei im Grunde einfache strukturelle Prinzipien beherzigt werden:
 
1. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach die übergeordnete Staatsebene eine Aufgabe nur dann übernehmen soll, wenn sie sie nachweislich besser als die Gliedstaaten oder Gemeinden erfüllen kann.
2. Das fiskalisches Äquivalenzprinzip, welches besagt, dass Entscheidungsträger, Kostenträger und Nutzniesser möglichst identisch sein sollten. Oder kürzer: Wer zahlt, befiehlt. Dazu müssen die Kanone wissen, dass Ihnen bei drohender Insolvenz niemand hilft.
 
Nur so ist echte Autonomie eines Kantons realisierbar und werden seine Mittel effizient eingesetzt. An der Missachtung dieser Prinzipien kranken die Föderalismen in allen anderen europäischen Staaten und auch in der EU selber als Staatenverbund.12 Aus diesen Prinzipien folgt, dass jede staatliche Körperschaft eindeutig zugeteilte Aufgaben haben muss und dass sie für deren Finanzierung selber verantwortlich ist. Gliedstaaten mit ausgeprägter Autonomie in vielen Bereichen werden allerdings unterschiedlich erfolgreich sein. Deshalb werden Finanzkraft und Wohlstand zwischen den Gliedstaaten Unterschiede aufweisen. Deshalb muss der Staat mit einem Finanzausgleichssystem zu grosse Unterschiede mildern. Dabei entsteht das gleiche Grundproblem wie beim Sozialstaat generell: Das Ausgleichssystem muss so gestaltet sein, dass weder die Geber noch die Nehmer Anreize erhalten, weniger Leistung zu erbringen und auf dem Status Quo auszuruhen. Er darf deshalb die bezahlenden Starken nicht so schwächen, dass sie ihre Stärke verlieren. Dafür gibt es leider keine ideale Lösung, wie das permanente Ringen um eine solche zeigt.
 
5. Die Konkordanz
 
Die permanente Schweizer Mehrparteienregierung ist ein Unikum in der internationalen politischen Landschaft. Sie ist nirgends festgeschrieben. Sie hat sich im Laufe der letzten 150 Jahre als Folge der direkten Demokratie herausgebildet. Politische Gruppierungen, welche die Kraft zur Ergreifung von Referenden entwickelten, wurden in den Bundesrat integriert, um deren Blockierungspotential durch Mitverantwortung zu bändigen. Das erleichterte das Aushandeln mehrheitsfähiger Kompromisse. Die Konkordanz beruht nicht auf einem gemeinsamen Programm und schon gar nicht auf Zuneigung. Es ist also keine Koalition im deutschen Sinne. Es ist schlicht eine Arbeitsformel, die sich bewährt hat.
 
6. Das Integrationswunder Schweiz
 
Die vielen Volksabstimmungen über Migrationsthemen führen im Ausland zum Eindruck, die Schweiz sei ein ausländerfeindliches Land. Das Gegenteil ist wahr. In keinem anderen europäischen Land ausser Luxemburg ist der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund grösser. Ohne die geistigen und wirtschaftlichen Impulse durch Migranten wäre der Erfolg der Schweiz nicht denkbar. Spontane Stichworte dazu sind etwa die Hugenotten, die lombardischen Banquiers in Genf, die französischen Apotheker in Basel, die liberalen deutschen Flüchtlinge, Namen wie Brown, Boveri, Nestlé, Hayek usw. usf. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass heute ohne ausländische Zuwanderer weder unsere Müllabfuhren noch unsere Spitäler und Altersheime einsatzfähig wären. Nicht zuletzt dank unseres dualen Bildungssystems haben auch Secondos aus ärmeren Diasporas weit bessere Entwicklungs- und Integrationschancen als anderswo. Gerade das ist ja das Phantastische unserer politischen Kultur: Wer ihre Werte beherzigt und lebt, ist vollwertige Bürgerin und vollwertiger Bürger, unabhängig von Herkunft oder Ethnie.
 
7. Die Willensnation muss wollen
 
Unsere Institutionen, die in oft schmerzhaften historischen Prozessen und auf vielen Umwegen entstanden sind, haben also das erfolgreiche und friedliche Zusammenleben eines überaus heterogenen Volkes ermöglicht. Aber Institutionen funktionieren nur so lange gut, als sie von einem politischen Willen getragen werden, daher die Metapher von der Willensnation. Jedem Beobachter unserer politischen Landschaft wird auffallen, dass unser Modell Erosionssymptome aufweist. Das wohl wichtigste davon ist zurzeit der auffällige Reformstau, in welchem wir zurzeit gefangen sind. Er betrifft zentrale Bereiche wie die Europapolitik, die Altersvorsorge, den Föderalismus, die Neutralitätspolitik oder die Energiepolitik. Ich will vier der Störfaktoren kurz skizzieren.
Ein erster wesentlicher Faktor ist die erwähnte ausgeprägte politische Polarisierung. Der Verhaltensökonom Ernst Fehr hat gezeigt, dass für die Performance eines Staates kooperative Kulturen entscheidend sind.13 Der Entwicklungsökonom Paul Collier weist darauf hin, dass das Gefühl einer gemeinsamen Identität die Kooperation stärkt.14 Die Polparteien haben wie schon erwähnt entdeckt, dass sich mit Polarisierungsstrategien Wahlen gewinnen lassen. Die einen zelebrieren eine neue Art des Klassenkampfes, die andern bewirtschaften einen Stadt-Land- und Inländer-Ausländergraben. Daraus entstehen Feindbilder, die einer Versöhnungskultur diametral entgegenlaufen. Charakteristisch für solche Polarisierungsstrategien ist die Kompromissresistenz. Beispielhaft ist die festgefahrene Europadiskussion. Die Gewerkschaften nehmen die Linke in Geiselhaft und die SVP verweigert sich jeder Lösung absolut. Daraus ergibt sich ein Zangenangriff, der vernünftige Kompromisse als fast unmöglich erscheinen lässt.
Ein zweiter Faktor ist der Souveränitätsverlust als Folge der Tatsache, dass immer mehr der grossen Probleme nur noch im Verbund von Staaten lösbar sind und dass der globalisierten Wirtschaft wegen Regeln zur Offenhaltung der Exportmärkte notwendig sind. Alles das macht Regulierungen nötig, die meist von Exekutiven und Bürokraten ausgehandelt werden, was wichtige Problemlösungen der demokratischen Mitbestimmung entzieht. Das kann beim Stimmvolk Frust auslösen, weil der Eindruck entsteht, bei wichtigen Fragen nichts mehr zu sagen zu haben. Das ist eines der politischen Probleme unserer Europapolitik.
Ein dritter Störfaktor ist die Kontaminierung unserer Konkordanzdemokratie mit Elementen der Konkurrenzdemokratie. Die Suche nach Konsens und Kompromissen erfordert Verhandlungen, Zuhören und Geduld. Das ist ziemlich langweilig. Aber tagtäglich verfolgen wir in den Medien, wie kurzweilig es in den parlamentarischen Demokratien zugeht. Da wird gekämpft, polemisiert, verunglimpft, da werden Regierungen gestürzt und Parlamente aufgelöst, und da gibt es permanent Sieger und Verlierer. Die Politik entartet zu spannenden Wettbewerben mit hohem Unterhaltungswert. Das mögen die Medien, und das mögen vor allem die Polparteien. Dieses Treiben ist auch stark mit Personifizierungen verbunden, was letztlich die eigentliche Sache im Hintergrund verschwimmen lässt. Damit tritt die sachliche Problemlösung hinter die Faszination des Spektakels zurück. Das aber macht die Erarbeitung mehrheitsfähiger Lösungen immer schwieriger.
Der vierte Störfaktor ist die Verschlammung des Föderalismus. Im Laufe der Jahre wurde der Föderalismus schleichend ausgehöhlt. Das hat eine Reihe von objektiven und nachvollziehbaren Gründen: Die zunehmende Mobilität, die verbesserte Verkehrsinfrastruktur und die neuen Informationstechnologien lassen die Räume sozusagen schrumpfen. Daraus entsteht das Bedürfnis nach gewissen Vereinheitlichungen. Die Komplexität der Probleme begann da und dort kleinere Kantone zu überfordern. Viele Wirtschaftsräume stimmen mit den Lebensräumen und den politischen Grenzen nicht mehr überein. Das erzeugt die sogenannte Spillover-Problematik: Zentren erbringen Leistungen, die vom Umland ohne Bezahlung mitkonsumiert werden, was zu verzerrten Anreizen führt. Und schliesslich erzeugt die Urbanisierung Lasten, welche die grossen Zentren teilweise zu überfordern drohen. Es gibt aber auch rein politische Gründe für die Erosion der föderalistischen Substanz: Zentralisten in Bern rissen mehr und mehr Aufgaben an sich. Aus Bequemlichkeit verkauften die Kantone einen Teil der föderalistischen Seele für ein Butterbrot an Subventionen an Bern. Es ist eben einfacher, in Bern für eine Problemlösung zu lobbyieren, als selber Verantwortung zu übernehmen. Die grundlegenden föderalistischen Prinzipien, das Subsidiaritäts- und das Äquivalenzprinzip, wurden zunehmend verletzt. Der Neugestaltung der Aufgabenteilung und des Finanzausgleichs NFA anfangs der Nullerjahre brachte eine markante Verwesentlichung des Föderalismus, aber schon am Tag danach feierte die Verschlammung Urständ. Es zeigte sich, dass sich die Politik zunehmend um die grundsätzlichen ökonomischen Prinzipien des Föderalismus foutiert. Der Bund reisst nach wie vor ständig Aufgaben an sich, die Verflechtungen nehmen wieder markant zu, ebenso die damit verbundenen Verwischungen der Verantwortlichkeiten.
 
8. Taugt das Labor Schweiz als Vorbild für andere Staaten?
 
Alle Demokratien sind zurzeit in Probleme geraten, und die Zustimmung zur Demokratie ist überall – ausser wohl in der Schweiz – gesunken. Alle suchen deshalb nach Möglichkeiten, durch vermehrte Volksnähe das Volk wieder zu gewinnen. Dabei hat das Modell Schweiz mit der direkten Demokratie eine gewisse Strahlkraft. Allerdings ist bei den ausländischen politischen Eliten gleichzeitig die Überzeugung unerschütterlich, das müsse Grenzen haben, denn das Volk sei bei komplexen Sachfragen überfordert, und nur eine erleuchtete politische Klasse sei in der Lage, einem Land den richtigen Weg zu weisen. Deshalb sucht man allenthalben nach Ersatzlösungen. Ein gängiges, aber letztlich untaugliches Rezept ist das Regieren auf der Basis von Meinungsumfragen, das Regieren also mit dem nassen Finger. Das mag bei Wahlen nützen, aber es führt in die Irre. Demokratie braucht auch Mut zur Führung, zur Erkämpfung des zunächst Unpopulären, aber Richtigen. Etwas weniger plump sind Ideen, die etwa unter dem Titel «deliberative Demokratie» segeln und im Wesentlichen darauf hinauslaufen, Diskussionsforen zu bilden, welche die soziale Struktur des Volkes abbilden, vielleicht gar durch Losentscheide perfektioniert, und die darüber diskutieren, was das Volk bewegt und was die Politik zu liefern habe. Also der nasse Finger verwissenschaftlicht. Ich halte davon nichts. Solche Zirkel werden sich tendenziell bemühen, möglichst viel Wünschbares zusammenzuklauben. Solche sozusagen unter Laborbedingungen entstandene Wunschlisten von Zirkeln, die keinerlei Verantwortung haben, bringen indessen meines Erachtens ein Land nicht weiter. Was den Menschen auf den Fingern brennt, muss Politiker natürlich interessieren, aber es darf nicht die einzige Richtschnur sein. Erst der Ernstfall, wenn das Volk entscheiden und nachher den Entscheid auch ausbaden muss, macht den Einbezug des Volkes glaubwürdig und wirksam.
Genau so wenig, wie Laborexperimente schon das Funktionieren im Grossformat garantieren, können die Erfolgsfaktoren eines Kleinstaates unbesehen auf andere Nationen mit völlig anderen Gegebenheiten übertragen werden. Ganz zurückhaltend formuliert lassen sich aber doch drei Empfehlungen herausdestillieren.
1. Dem Volk echte Mitentscheidungsmöglichkeiten zu geben, vermag die Identifikation mit dem Staat und seinen Institutionen zu fördern. Wie das geschehen könnte, müsste ein Staat selber gemäss seinen spezifischen Gegebenheiten selber erarbeiten. Die Regeln müssen allerdings klar und nicht vom momentanen Interesse der Regierung oder des Parlamentes abhängig sein, und die damit verbundenen Prozesse bedürfen der sorgfältigen Gestaltung. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Ergebnisse einer Volksbefragung nicht ausschliesslich von den gerade zufällig hochgespielten Emotionen abhängen. Der Brexit ist ein abschreckendes Beispiel. Aber ich teile die Meinung nicht, dass direkte Demokratie nur in kleinen Ländern möglich sein soll.
2. Gerade weil die Globalisierung durch internationale Verträge demokratische Rechte schmälert, ist eine direktere Einbindung des Volkes in Entscheide des näheren Umfeldes eine gewisse Kompensation. Deshalb sollten Aufgaben auf der jeweils tiefst möglichen Ebene entschieden werden, und dort unter Beachtung des Äquivalenzprinzips. Die Beherzigung solcher Prinzipien wäre in der EU wichtig, wo diesbezüglich ein wachsender Wildwuchs unübersehbar ist, der zu Dysfunktionalitäten führt. Ich bin mir aber bewusst, dass die Erfahrungen eines in abgelegenen Bergen versteckten Kleinstaates in Brüssel nur ein müdes Lächeln bewirken.
3. Vom Labor Schweiz kann man aber auch lernen, dass die segensreiche Wirkung noch so bewährte Prinzipien und Institutionen rasch erodieren kann, wenn der politische Wille zur Beherzigung der unterliegenden Werte schwindet. Die Schweiz täte gut daran, sich selber wieder auf die Kernelemente ihrer politischen Kultur zu besinnen und sie zu beherzigen. Das wird keine einfache Übung sein in dieser bewegten, chaotischen und unsicheren Welt.
 
9. Die Tücken der Kollegialregierung1516
 
Als ehemaliges Mitglied einer Regierung, deren Struktur in der internationalen Landschaft wie ein erratischer Block wirkt, möchte ich versuchen, einige Erfahrungen mit diesem seltsamen System zusammenzufassen. Die Fragezeichen sind berechtigt. Wie kann es sein, dass gemäss ausgewiesenen Experten wie Kurt Eichenberger oder Leonhard Neidhard17 die Schweiz zu einem der am besten regierten Ländern der Welt wurde, obwohl das politische Genie Napoleon sie noch für unregierbar gehalten hatte? Wie kann es sein, dass dies erst noch mit einer Regierungsstruktur gelang, die allen betriebswirtschaftlichen Regeln spottet, wie das der frühere legendäre Nestlé-CEO Helmut Maucher einmal ausdrückte, als er Kollektive mit Spitze als effizient, Kollektive als Spitze hingegen als des Teufels charakterisierte? Wie kann es sein, dass die ganze Welt glaubt, nur mit Präsidenten, Premierministern, Ministerpräsidenten oder Bundeskanzlern könne ein Staat auf einen grünen Zweig kommen, während die Schweiz mit einer kurios zusammengewürfelten und nicht hierarchisch geführten siebenköpfigen Truppe an der Spitze zum Erfolgsmodell wurde?
Obwohl – wie oben geschildert – der Erfolg der Schweiz auf einer ganzen Reihe von Gründen beruht, ist auch die Kollegialregierung wahrscheinlich einer der Erfolgsfaktoren unseres komplexen politischen Biotops.
 
9.1. Stabilisierende Funktion des Bundesrats
Wichtig für den Erfolg eines Regierungssystems ist nicht nur das Zusammenwirken, sondern auch die gegenseitige Kontrolle der Gewalten. Diese ist umso schwieriger, desto zerklüfteter die politische Landschaft ist. Dazu kommen in der Schweiz die ausgeprägten Volksrechte, deren Nutzung über Nacht zu Makulatur machen kann, wozu sich Politiker während Monaten zusammengerauft haben. Das Parlament, das mit der wachsenden Parteienzersplitterung die Meinungsvielfalt im Volk widerspiegelt, reagiert sensibel auf tagesaktuelle oder modische Oszillationen des Zeitgeists und ist damit wenig zur Sicherung langfristiger Strategien geeignet. Mit wechselnden Mehrheiten und feinjustiert durch angedrohte oder zustande gekommene Volksinitiativen und Referenden wurstelt es sich respektabel durch den immer komplexeren Polit-Dschungel. Dies bedarf aber eines stabilisierenden Korrektivs im Bundesrat, der ja nicht nur die Verwaltung managt und parlamentarische Beschlüsse umsetzt, sondern als eigenständige Gewalt strategisch führt und politische Massnahmen zuhanden des Parlaments ausarbeitet. Er muss in der Lage sein, langfristig zu denken und zu handeln. Das hinwiederum kann nicht ohne stabilisierende institutionelle Sicherungen gelingen. Stabilität und Kontrolle müssen deshalb optimal verbunden werden. Das erste wichtige stabilisierende Element ist die institutionelle Nichtabsetzbarkeit eines Regierungsmitglieds während der Legislatur, verbunden mit der Gepflogenheit, Bundesräten auch nach Neuwahlen in der Regel die Wiederwahl nicht zu verweigern. Das gibt dem Bundesrat die einzigartige Möglichkeit, sich auch Unpopularität zu leisten, wo es sich im Interesse der Sache aufdrängt. Es wäre zu wünschen, dass er diese Chance noch mutiger nutzte. Zudem wirken auch die im internationalen Vergleich langen Amtsdauern stabilisierend, denn sie führen zu nützlicher Akkumulation von Fachkunde in einem Beruf, für den es keine Lehre gibt. Natürlich werden diese stabilisierenden Elemente in den Medien immer auch wieder kritisiert, weil sie die Politik langweiliger machen, was die Medien nicht mögen. Aber Betriebsamkeit und Wirbel sind keine hinreichenden Gründe zur Änderung eines bewährten Systems. Das zweite unverzichtbare Element der Stabilität ist das Kollegialprinzip. Würde es zu häufig oder gar systematisch gebrochen, würden Autorität und Effizienz des Bundesrats mit der Zeit zerstört. Hier lauern zurzeit durchaus akute Gefahren.
 
9.2. Eigenheiten der Institution Bundesrat
Wir müssen uns nun ein paar Eigenheiten der Institution Bundesrat im Vergleich zu anderen Regierungsformen vergegenwärtigen. Die Mitglieder, verschiedenen Parteien, Konfessionen und Regionen angehörig, werden nicht von einem Regierungschef nach bestimmten Kriterien ausgewählt und je nach Opportunität wieder ausgewechselt, sondern vom Parlament in die Regierung gewählt, wo sie sich gegenseitig zu akzeptieren haben und zur Zusammenarbeit verurteilt sind, vergleichbar der Situation in einer Berghütte, wo eine zufällig zusammengewürfelte und Schutz suchende Gruppe wegen eines unerwarteten Unwetters zum Überleben zusammenarbeiten muss. Entscheide werden im Konsens oder durch Ausmehrung gefällt, und der jährlich wechselnde Vorsitzende ist lediglich Primus inter Pares mit nur begrenzten zusätzlichen Kompetenzen. Wichtige Probleme werden eingehend diskutiert, und keine Koalitions- oder Parteiausschüsse können irgendwelche Weisungen erteilen. Deshalb sind die Diskussionen freier und offener als in Regierungen mit parlamentarischen Systemen. Ist der Entscheid einmal gefällt, haben ihn auch jene Mitglieder zu vertreten, die in der Diskussion anderer Meinung waren, und zwar sogar dann, wenn es das eigene Departement betrifft. Die Doppelrolle als Chefs hierarchisch strukturierter Departemente und gleichzeitig Mitglied einer Kollegialregierung ist überaus anspruchsvoll, und alle sind der ständigen Versuchung ausgesetzt, zur Selbstprofilierung aus der Kollegialität auszubrechen. Allerdings gibt es starke Anreize, dies zu unterlassen. Solche Ausbrüche belasten das Gruppenklima und führen zu unliebsamen Diskussionen für das betroffene Mitglied. Wenn es die kollegialen Regeln redlich und loyal einhält, findet es im Kollegium auch Rückhalt und Unterstützung. Es bildet sich trotz aller natürlicher Spannungen eine Art Gruppengefühl, ja sogar das Gefühl einer gewissen Schicksalsgemeinschaft, dem ein starker kollektiver Wille entspringen kann, gemeinsam eine überdurchschnittliche Leistung zu erbringen. Dabei verfügt das Kollegium durchaus über subtile Sanktionsmechanismen allfälligen chronischen Abweichlern gegenüber. So können etwa Geschäfte verzögert, Anträge abgelehnt oder unangenehme Diskussionen vom Zaune gerissen werden.
 
9.3. Die kollegialitätsgefährdenden Gifte
Es gibt aber leider auch Gifte, welche die Kollegialität gefährden können. Ich will deren drei erwähnen: Die fehlende Distanz zur Partei, die Indiskretion und die Versuchung, den Medien gefallen zu wollen.
Eigentlich ist der Bundesrat eine Präsidialbehörde. Wer Mitglied wird, ist nicht mehr Vertreter einer Partei, einer Gewerkschaft oder eines Verbandes mit dem Auftrag, in den bundesrätlichen Verhandlungen das Maximum für die eigene Klientel herauszuholen. Es hat vielmehr den Auftrag, mit den Kollegen zusammen nach den besten Lösungen für das Land zu suchen. Dass es dabei seine politischen Überzeugungen und seine Lebenserfahrungen einbringt, ist gewollt und nötig, und es muss auch nicht verleugnet werden. Aber das Ziel ist ein höheres als ein maximales partikularegoistisches Verhandlungsergebnis. Das ist deshalb nicht einfach, weil die Parteien schon immer, aber seit Jahren vermehrt versuchen, ihre Bundesräte parteipolitisch zu instrumentalisieren oder gar zu disziplinieren. Damit wird das Kollegialsystem mit systemfremden Elementen eines parlamentarischen Systems verwässert. Das verstärkt die fatale Tendenz der Parteien, Wahlergebnissen gegenüber der Lösung der zentralen nationalen Probleme Priorität zu verleihen.
Die Indiskretion ist ein Übel, das unser Regierungssystem seit Jahren heimsucht. Dabei geht es nicht um die Aufdeckung von Missständen im Sinne des Whistleblowings, gegen das nichts einzuwenden ist. Es geht um den Versuch, durch die Publikation vertraulicher und aus dem Zusammenhang gerissener Bruchstücke einen politischen Prozess zu beeinflussen, einem missliebigen Politiker zu schaden oder aus partikularegoistischen Gründen Entscheidungsprozesse der Regierung zu hintertreiben. Solche Indiskretionen können das Vertrauensklima im Kollegium vergiften. Kommt die Indiskretion aus der näheren Umgebung eines Kollegen? Steckt dieser sogar selber dahinter? Kann man überhaupt noch ehrliche Mitberichte schreiben, ohne dass alles vorzeitig zu einer Konkurrenzpartei oder an die Öffentlichkeit gelangt?
Es wurde etwa schon gefordert, Bundesratssitzungen öffentlich zu machen, um den Reiz von Indiskretionen zu reduzieren und ganz allgemein die demokratische Transparenz zu fördern. Solches würde allerdings die konstruktive Arbeitsweise des Kollegiums massiv beeinträchtigen. Die bundesrätliche Meinungsbildung würde von der sachlichen auf die parteipolitische Ebene verschoben. Mitberichte hätten nicht mehr die Aufgabe, die beste Lösung zu suchen, sondern das politische Image des Autors zu profilieren und die Parteiposition plakativ darzustellen. Aus der Volksregierung würde ein Basar mit parteipolitischen Stellvertreterkriegen. Damit würde die Öffentlichkeit der Verhandlungen auch die bundesrätliche Kompromissfähigkeit beeinträchtigen. Jedes Einschwenken auf einen Kompromiss oder gar das Nachgeben auf der Basis besserer Einsicht, die erst im Verlauf der Diskussion entstand, würde zur öffentlichen Niederlage und gegenüber der eigenen Partei begründungspflichtig. Daraus entstünde ein Anreiz, sich unnachgiebig zu zeigen, sich überstimmen zu lassen und nachher die Einsichtslosigkeit der Kollegen öffentlich zu kritisieren. Gleichzeitig würden alle Risse im Kollegium permanent publik, was die Schlagkraft des Kollegiums schwächen, die Kollegialität damit faktisch aushebeln und das ach-so-beliebte Spiel der Medien begünstigen würde, die Bundesräte in Sieger und Verlierer einzuteilen.
Keinem Politiker kann sein Bild in der Öffentlichkeit gleichgültig sein, denn «perception is reality». Deshalb ist die Versuchung, das Handeln auch auf das Erringen der Gunst der Medien auszurichten, in der Politik stets präsent, auch bei Bundesräten. Wenn allerdings der erste Gedanke am Morgen um das eigene Bild in der Morgenpresse kreist und nicht um die Suche nach der besten Lösung eines politischen Problems, wird die Objektivität des eigenen Handelns verzerrt. Den Medien gefallen zu wollen, ist ein Pakt mit dem Teufel. Mediengunst ist vergänglich. Es darf nie das Ziel eines Bundesrates sein, geliebt zu werden. Respekt genügt.
 
9.4. Neun statt sieben Bundesräte?
Periodisch taucht eine alte politische Seeschlange auf, die Forderung nach neun statt sieben Bundesräten. Sie wird immer dann erhoben, wenn sich eine Partei davon erhofft, einen Sitz in der Regierung gewinnen zu können. Leider liegen die Dinge nicht so einfach. Der Schritt von sieben auf neun heisst nicht einfach, zwei Limousinen mehr plus ein paar teure Staatssekretäre. Das wäre trotz Schuldenbremse wohl verkraftbar. Es heisst nichts anderes, als eine Zunahme der Komplexität des Systems in einem Ausmass, das seine Funktionsfähigkeit gefährdet. Wenn man die Anzahl interagierender Elemente eines Systems linear erhöht, wächst dessen Komplexität exponentiell. Die Diskussionen, die heute schon viel Zeit brauchen, würden um weit mehr als zwei Siebtel länger. Die Gefahr von Fraktionsbildungen mit Vorabsprachen nähme signifikant zu, die Koordinationsprobleme wüchsen ebenfalls exponentiell, und die Kollegialität käme noch weit mehr unter Druck, als sie manchmal schon heute ist. Sieben ist gewissermassen eine magische Zahl: Es ist die kleinstmögliche, die noch die Repräsentation der wichtigsten politischen Grundströmungen erlaubt, und die grösstmögliche, die in unserem bewährten System noch überhaupt handhabbar ist. Sonst würde sich sofort die Frage nach einem weisungsbefugten Premier-Bundesrat stellen. Den allerdings würden zahlreiche Parteien für sich beanspruchen und den andern missgönnen, mit allen Folgen für die für unser zersplittertes Land so wichtige Stabilität. Zugleich einen politisch noch Begabteren als Napoleon Bonaparte zu finden, dürfte gar nicht so einfach sein. Und das wäre dann plötzlich eine andere, aber leider kaum bessere Schweiz. Es lohnt sich also, zu unserem exotischen System Sorge zu tragen. Trotz aller Bindungen, Kontrollen und Zwängen: Ein einiger Bundesrat kann Berge versetzen!
 
10. Einige Schlussfolgerungen
 
Eine erfolgreiche Staatsleitung braucht immer zweierlei: Solide Institutionen und geeignete Personen, die im Rahmen der Institutionen handeln. Es ist müssig zu streiten, was wichtiger sei, die Institutionen oder die Menschen. Die Institutionen setzten Anreize, welche das Handeln der Menschen beeinflussen, und die Menschen schaffen und beeinflussen die Institutionen. Man kann feststellen, dass die komplexen Schweizer Institutionen einem äusserst vielfältigen Staatsvolk die Schaffung eines äusserst erfolgreichen Staates ermöglichten. Gemessen an den meisten für den Erfolg eines Staates relevanten Kriterien gehört die Schweiz zu den besten Staaten der Welt, auch wenn wir uns nicht immer so fühlen und einige politische Kräfte sich redlich bemühen, die Zustände hierzulande schlechtzureden.
Nun müssen wir zweierlei feststellen. Erstens haben sich die Herausforderungen, vor denen die Schweiz steht, massiv vergrössert. Kriege verschlechtern die sicherheitspolitische Lage, ein rasanter technologischer Wandel strapaziert das Schluckvermögen der Menschen, Sand im Getriebe des Welthandels betrifft eine kleine weltoffene Exportnation sehr direkt, der demographische Wandel setzt die Gesellschaft unter Stress, und sich beschleunigende Migration bringt die Integrationsfähigkeit an ihre Grenzen. Zweitens beginnen sich Aussetzer am Erfolgsmotor zu häufen. Der Reformstau in wichtigen Bereichen ist ein bedenkliches Symptom dafür, dass die Anpassungsfähigkeit des Staates mit dem Tempo der Veränderungen immer weniger mithält. Die Politik leistet es sich zunehmend, an dem herumzumäkeln, was funktioniert, und das zu unterlassen, was Not täte. Die Fähigkeit, taugliche Kompromisse zu schmieden und durchzusetzen, eine Stärke der Schweiz, lässt nach. Die Rahmenbedingungen für unsere Wirtschaft, deren Erfolg die unverzichtbare Grundlage des Erfolgs der Schweiz ist, verschlechtern sich schleichend, aber markant. Einerseits verschlechtert sich - wie gesagt - das von uns nicht beeinflussbare Umfeld, andererseits auferlegt die Politik den Unternehmen immer neue Bürden, und wirtschaftsfeindliche Volksinitiativen, die im Unterschied zu früher plötzlich gute Erfolgschancen haben, bedrohen die für Investoren so wichtige Rechtssicherheit. Zudem scheint sich in der Gesellschaft ein Wandel von der Leistungs- zur Anspruchsgesellschaft abzuzeichnen, die mit der Zeit die Tragfähigkeit des Staates überfordern könnte. Ein erstes Symptom dafür ist die rasche Verschlechterung der Situation der Bundesfinanzen.
Aus dieser Situation ergeben sich zwei Fragen: Sind erstens unsere Institutionen reformbedürftig, um die Anpassungsfähigkeit des Staates zu erhalten, und hat sich zweitens die Bereitschaft des Volkes verändert, das Erfolgsmodell weiter zu tragen, oder anders gesagt: Brauchen wir neben anderen Institutionen auch ein anderes Volk?
Es ist nicht der Zweck dieses Papiers, Lösungen vorzuschlagen, sondern Fragen aufzuwerfen. Zuerst zu den Institutionen:
 
10.1. Direkte Demokratie:
Wenn die direkte Demokratie von der Stärke zum Risiko zu mutieren droht, braucht es dann eine Verwesentlichung, etwa durch eine Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Volksinitiativen?
Sollen Initiativen, die grundlegende demokratische und individuelle Rechte verletzen oder beispielsweise durch Rückwirkung die Rechtssicherheit torpedieren als ungültig erklärt werden dürfen?
Sollen nur noch Initiativen zugelassen werden, deren Finanzierung gleichzeitig gesichert wird?
Soll die Verminderung der direktdemokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten, die aus den Zwängen zur Internationalisierung erwächst, durch erweiterte Mitwirkungsmöglichkeiten in anderen Bereichen kompensiert werden?
 
10.2. Föderalismus:
Braucht der Föderalismus eine revolutionäre Anpassung an die gewandelten soziodemographischen und sozioökonomischen Verhältnisse, etwa durch die Reduktion auf sieben Kantone?
Wie kann dem Zentralisierungsdruck institutionell entgegengewirkt werden?
Braucht es Anpassungen in Richtung einer zeitgemässeren und klareren Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen?
Wie kann der fiskalischen Äquivalenz konsequenter zum Durchbruch verholfen werden?
 
10.3. Milizsystem:
Wie kann die schleichende Erosion des Milizsystems gebremst oder gar gedreht werden? Welche Beiträge kann die Wirtschaft zur Milderung dieses Problems leisten?
 
10.4. Bundesrat:
Gibt es Möglichkeiten, die Effizienz der Arbeitsweise des Bundesrats dem gewandelten Umfeld anzupassen, ohne dessen Stärken, dessen Stabilitätsfunktion und dessen integrative Kraft zu beeinträchtigen?
 
10.5. Wirtschaftsordnung:
Wie kann die Verreglementierung der Wirtschaft gebremst werden?
Wie könnte ein Verbesserungsprogramm der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aussehen, das die Standortbedingungen auch im erschwerten Umfeld überdurchschnittlich gut gestaltet?
 
10.6. Nun zu den Menschen:
Adenauer hat einmal gesagt, man müsse die Menschen nehmen, wie sie seien, man kriege keine besseren. Das zu verändern, was man als Zeitgeist bezeichnet, und sei dieser noch so problematisch, ist ohnehin kaum möglich. Es wäre indessen doch ein paar Überlegungen wert, wie unser Bildungssystem unsere Jugend zu besseren Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern erziehen könnte, die erstens wissen, dass man vom Staat nicht nur fordern kann, sondern auch Beiträge ans Gemeinwohl leisten muss, und die auch erkennen, dass jemand alles das im Schweisse des Angesichts erarbeiten muss, was der Staat an Segnungen nachher verteilen kann. Ein zentrales Problem wird zudem sein, die Zuwanderer und ihre Nachkommen möglichst rasch zu integrieren und für die Werte zu überzeugen, die für den Erfolg der Schweiz zentral sind. Wegen der tiefen Geburtenrate der Schweizerinnen wird langfristig nicht die Zuwanderung, wie es jetzt politisch hochgespielt wird, unser Problem sein, sondern die Sicherung einer hinreichenden Zuwanderung, um eine gefährliche Schrumpfung der Schweiz zu verhindern. Damit aber diese Zuwanderung nicht zu einer Verwässerung unserer politischen Kultur und zu gefährlichen Parallelgesellschaften führt, wird eine ausgesprochen hohe Integrationsfähigkeit zum Imperativ. Das wird die grosse Herausforderung werden, nicht die Verhinderung der Zuwanderung. Und eine weitere Herausforderung wird es sein, alle Parteien wieder vom unverzichtbaren Wert der Kompromissfähigkeit zu überzeugen. Das Problem ist nicht die fehlende Mitte. Wer Mitte wählt, weiss letztlich nicht, was er wirklich wählt. Mitte ist keine erstrebenswerte Qualität. Mitte ist keine Haltung, die dem Stimmvolk Orientierung vermittelt. Polparteien sind nicht ein Problem, weil es Polparteien sind. Ihre Kompromissunfähigkeit ist das Problem.
Die Wirtschaft wiederum, deren Brummen Bedingung für unseren Wohlstand ist, wird sich überlegen müssen, was sie dazu beitragen kann, um die Herzen der Bürgerinnen und Bürger wieder zu gewinnen. Offensichtlich genügt es nicht, dass sie den Wohlstand erarbeitet. Sie muss mit dafür sorgen, dass die Menschen das auch merken.
Zum Schluss noch dies: Es ist klar, dass grosse Umbauten unserer institutionellen Strukturen schwer realisierbar sind. Und bei gutem politischem Willen erlauben auch die bestehenden Strukturen, eine anspruchsvolle Zukunft zu bewältigen. Aber das braucht Persönlichkeiten, die das anpacken. Auch solche hat es in unserem Lande immer wieder gegeben. In allen politischen Parteien. Vorbild für mich waren immer Persönlichkeiten wie General Guillaume-Henri Dufour, der nach dem Sonderbundskrieg dafür sorgte, dass die Verlierer nicht gedemütigt, sondern respektiert wurden, oder wie Konrad Ilg und Ernst Dübi, die in den Dreissigerjahren das Friedenabkommen der Schweizer Metall- und Uhrenindustrie schufen.
 
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1 KASPAR VILLIGER (1941), Eidg. dipl. Masch. Ing. ETH, von 1966 bis 1998 führte er die Villiger-Gruppe, ab 1972 politische Tätigkeit (FDP) im Kt. Luzern als Grossrat, Nationalrat und Ständerat, ab 1989 Bundesrat, zuerst Vorsteher des Eidg. Militärdepartements, danach des Finanzdepartements, 1995 und 2002 Bundespräsident, nach seinem Rücktritt Mitglied des Verwaltungsrats der Nestlé, Swiss Re, NZZ und VRP der UBS AG. 2004 Ehrendoktor (Uni Luzern), Mitglied der Global Leadership Foundation GLF und Chairman der UBS Foundation for Economics in Society, 2016 Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung, 2021 Freiheitspreis der schweizerischen Bonny-Stiftung; Werke: Zukunft gestalten statt ängstlich verharren, Zürich 2004; Eine Willensnation muss wollen, Zürich 2009 ; Demokratie und konzeptionelles Denken, Zürich 2015; Die Durcheinanderwelt, Zürich 2017 ; Demokratie. Jetzt erst recht, Zürich 2018; Stresstest für die Demokratie, Bern 2020.
2 Vgl. EICHERBERGER KURT, Vom Schweizer Weg zum modernen Staat, Basel 2002.
3 Vgl. BESLEY THIMOTHY/MÜLLER HANNES, Political Robustnes. December 10, 2017.
4 Vgl. HAYEK FRIEDRICH A., Der Weg zur Knechtschaft, Tübingen 2023.
5 Vgl. VON MATT PETER, Das Kalb vor der Gotthardpost, München 2012.
6 Vgl. HÄUSERMANN SILJA/BORNSCHIER SIMON, Democratic Conflict and Polarisation, UBS Center for Economics in Society, Public Paper #14.
7 Vgl. FUNKE MANUEL/SCHULARICK MORITZ/TREBESCH CHRISTOPH, Populist Leaders and Economy, American Economic Review, 113 (12).
 8 Vgl. SCHNABL GUNTHER, Deutschlands fette Jahre sind vorbei, München 2024.
9 Vgl. SCHMID KARL, Versuch über die Schweizer Nationalität, in: SCHMID KARL: Gesammelte Werke, Band II, Zürich 1998.
10 Vgl. STUTZTER ALOIS/FREY BRUNO S., Stärkere Volksrechte – Zufriedene Bürger, Swiss Political Service Review, Volume 6, Autumn 2000.
11 Vgl. FELD LARS P./SCHALTEGGER CHRISTOPH A., Föderalismus und Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz, Zürich 2017.
12 Vgl. VILLIGER KAPAR, Die Durcheinanderwelt, Zürich 2017.
13 Vgl. GINTIS HERBERT/BOWLES SAMUEL/BOYD ROBERT/FEHR ERNST, Moral Sentiments and Material Interests, Massachusetts 2005.
14 Vgl. COLLIER PAUL, Exodus, München 2014.
15 Vgl. VILLIGER KASPAR, Eine geniale Schweizer Erfindung, Neue Zürcher Zeitung, 4. Januar 2022.
16 Vgl. VILLIGER KASPAR, Eine Willensnation muss wollen, Zürich 2009.
17 Vgl. NEIDHART LEONHARD, Die politische Schweiz, Zürich 2002.
 

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