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Hintergrund
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid 4A_516/2020 vom 8. April 2021 geprüft, ob das Schiedsgericht den materiellen Ordre public und den Grundsatz ne extra petita verletzt hatte, indem es türkischen Investoren eine Entschädigung in syrischen Pfund (SYP), anstatt – wie beantragt – in US-Dollar zugesprochen hat.
Konkret handelt es sich um ein Schiedsverfahren zwischen vier türkischen Investoren und der Syrischen Arabischen Republik (hiernach Syrien). Die türkischen Investoren hatten in Syrien in den Zementsektor investiert. Zu diesem Zweck hatten sie mehrere Unternehmen nach syrischem Recht gegründet, die in der Produktion von Zement tätig waren. Nachdem im Jahre 2011 in Syrien der Bürgerkrieg ausgebrochen war, breitete sich der Konflikt im April 2012 auch auf die Region aus, in welcher die türkischen Investoren tätig gewesen waren; kurdische Organisationen übernahmen die besagten Gebiete, womit den Investoren die Nutzung und Kontrolle über ihre Fabriken versagt blieb. Infolgedessen reichten die Investoren im Jahre 2016 in Genf ein Schiedsverfahren gegen Syrien ein und beantragten die Bezahlung einer Schadenersatzsumme von mehreren Millionen US-Dollar.
Syrien und die Republik Türkei sind durch ein bilaterales Investitionsabkommen (BIT SYR-TUR) verbunden. Art. III BIT SYR-TUR sieht vor, dass den Investoren im Falle einer Enteignung oder von Massnahmen, welche eine ähnliche Wirkung entfalten, ein Anspruch auf Entschädigung zusteht. Das besagte Abkommen sieht des Weiteren eine Meistbegünstigungsklausel vor. Demnach wird den Investoren das Recht auf eine günstigere Behandlung zuteil, sofern diese in einem anderen bilateralen Investitionsabkommen zwischen einem Vertragspartner und einem Drittstaat vorgesehen ist. Die Investoren beriefen sich daher auf Art. 4 des Bilateralen Investitionsabkommens zwischen Syrien und Italien (BIT SYR-IT). Art. 4 BIT SYR-IT räumt den Investoren nämlich einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung im Falle von Verlust oder Schäden wegen Krieg, bewaffneten Konflikten, Bürgerkrieg oder ähnlichen Ereignissen ein und zwar unabhängig davon, ob solche Verluste oder Schäden durch staatliche Kräfte oder andere Subjekte verursacht worden sind.
Das Schiedsgericht verurteilte Syrien zur Zahlung einer Entschädigung im Umfang von SYP 4.5 Mia. Des Weiteren gestand es den Investoren das Recht zu, die Zahlung des zugesprochenen Betrags in US-Dollar zum offiziellen Wechselkurs der syrischen Zentralbank am Tag der Zahlung zu verlangen. Die Kompensation beträgt daher rund USD 9 Mio. Als Ausgangswert setzte das Schiedsgericht den Betrag in SYP im Zeitpunkt des Schadenseintritts fest; und nicht, wie von den Investoren beantragt, in USD. Als Folge davon mussten letztere die erhebliche Abwertung des syrischen Pfunds tragen, welche auf die kriegsbedingte Inflation zurückzuführen war: Sie erhielten damit nur 21% der Summe, welche sie bei der Festsetzung im Zeitpunkt des Schadenseintritts in USD erhalten hätten.
Die Investoren erhoben gegen diesen Schiedsspruch Beschwerde vor Bundesgericht und machten die Verletzung des Ordre public i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG geltend, weil sie keine angemessene Entschädigung für die Enteignung erhalten hätten. Des Weiteren rügten sie die Verletzung des Grundsatzes ne extra petita i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG, weil das Schiedsgericht die Entschädigung in SYP, anstatt, wie von den Investoren beantragt, in US-Dollar festgesetzt hätte.
Mit Blick auf die erste Rüge verweisen die Investoren auf die Rechtsprechung des EGMR betreffend der Eigentumsgarantie. Diese ist nämlich nach Dafürhalten der Beschwerdeführer verletzt worden, indem das Schiedsgericht die Entschädigung in SYP zugesprochen hat. Die festgesetzte Summe stelle nur einen marginalen Anteil dessen dar, was eigentlich gefordert (worden) sei, weshalb vorliegend von einer unrechtmässigen Enteignung die Rede sein müsse, weil eine angemessene Entschädigung ausbleibe. Gleichzeitig sei damit der Ordre public beschnitten.
Das Bundesgericht stellt zunächst fest, dass die Prinzipien der Bestimmungen der EMRK den Grundsatz des Ordre public konkretisieren könnten. Allerdings liege in der Verletzung dieser Grundsätze nicht per se auch ein Verstoss gegen den Ordre public. Des Weiteren führte das Bundesgericht aus, dass die Eigentumsgarantie kein absolutes Recht auf eine vollständige Entschädigung gewährleiste. Eine Verletzung des Ordre public i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG liege nur dann vor, wenn die konkrete Entschädigung unter Berücksichtigung aller Umstände in einem so krassen Missverhältnis zum Wert der verlorenen Investition stehe, dass sie gegen fundamentale Grundsätze der Rechtsordnung verstösst. Dies bedeutet, dass in casu der Ordre public nicht schon deshalb verletzt ist, weil die Investoren keine vollständige Entschädigung zugesprochen erhalten haben.
Das Bundesgericht konstatiert, dass die vorliegend festgesetzte Entschädigung unter Berücksichtigung aller Umstände nicht in krasser Weise gegen die wesentlichsten Grundsätze der Rechtsordnung verstosse und dementsprechend der Ordre public i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG nicht beschnitten worden sei. Das Bundesgericht führt insbesondere nachfolgende Argument ins Feld: Einerseits seien die Investoren wissentlich und willentlich das Risiko eingegangen, in Syrien Kapital einzubringen und andererseits hätten diese die Erträge ohnehin stets in SYP erhalten. Darüber hinaus trage Syrien in einer Ausnahmesituation, wie in casu einem bewaffneten Konflikt, nicht die gleiche Verantwortung wie im Falle einer unerlaubten Handlung oder einer Vertragsverletzung. Des Weiteren müsse nach Ansicht des Bundesgerichts die schwierige Situation in Syrien aufgrund des jahrzehntelangen Konflikts mitberücksichtigt werden; insbesondere die Auswirkungen einer sehr hohen Geldentschädigung auf die öffentlichen Ausgaben und die Bevölkerung. Alle diese Umstände rechtfertigten den Verzicht auf eine volle Entschädigung, womit auch die Verletzung des Ordre public i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG verneint werden müsse.
Mit der zweiten vorgebrachten Rüge machten die Investoren geltend, dass das Schiedsgericht Art. 190 Abs. 2 lit. c IPRG verletzt hätte. Gemäss dem besagten Artikel kann das Schiedsgericht nicht über Streitpunkte entscheiden, die ihm nicht unterbreitet worden sind. Gemeint sind damit Entscheidungen, die mehr («ultra petita») oder etwas anderes («extra petita») zusprechen, als beantragt wurde. In casu machten die Investoren geltend, dass das Schiedsgericht etwas anderes zugesprochen hätte, als beantragt worden sei, weil es die Entschädigung in einer anderen Währung zugesprochen hat. Das Bundesgericht führt aus, dass die Entschädigung in SYP anstatt USD technisch gesehen ein aliud sei. Es weist jedoch darauf hin, dass dem Schiedsrichter ein gewisser Spielraum bei der Zuerkennung einer angemessenen Entschädigungssumme zukomme. Das urteilende Gericht liess jedoch die Frage offen, ob der Schiedsrichter das Recht hat, die Entschädigung in einer anderen als der von den Parteien beauftragten Währung zuzusprechen. Das Bundesgericht führt aus, dass die Aufhebung der Entscheidung des Schiedsgerichts die Zurückweisung des Falles an das Schiedsgericht bedeute. Vor dem Hintergrund, dass nicht sicher sei, dass die neue Entscheidung des erstbefassten (Schieds-)Gerichts für die Investoren günstiger wäre – insbesondere mit Blick auf die Verfahrenskosten – hätten die Investoren kein schutzwürdiges Interesse an der Aufhebung des Schiedsspruchs. Dementsprechend sei die Einrede unzulässig.
Fazit
Das Bundesgericht kommt in seinem Verdikt zum Schluss, dass die Eigentumsgarantie keinen Anspruch auf volle Entschädigung einräumt. Ausserdem ist der Ordre public i.S.v. Art. 190 Abs. 2 lit. e IPRG nicht verletzt, wenn die zugesprochene Kompensation unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände nicht in einem krassen Missverhältnis zum Wert der verlorenen Investition steht, d.h. diese keinen Verstoss gegen die fundamentalen Grundsätze der Rechtsordnung darstellt. Die Entscheidung des Bundesgerichts ist insbesondere deshalb zu befürworten, weil sie mehrere Umstände berücksichtigt, die eine nicht vollständige Entschädigung rechtfertigen können.
Anderseits lässt das Bundesgericht mangels eines schutzwürdigen Interesses seitens der Investoren die Frage offen, ob der Schiedsrichter grundsätzlich befugt ist, eine Entschädigung in einer anderen als der von den Parteien beantragten Währung zuzusprechen. Bedauerlich ist, dass das Bundesgericht diesen Punkt ungeklärt lässt. Bereits im Urteil 4A_684/2014 hatte es dieselbe Frage offengelassen. Es ist daher zu hoffen, dass sich für die höchste Schweizer Rechtsprechungsinstanz in naher Zukunft die Möglichkeit eröffnet, diese praxisrelevante Frage zu klären.
Elisa Castelnuovo
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