Beschreibung
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Recht ist im hohen Masse Ausdruck einer kulturellen Tradition, von Werten und sozialen Grundsatzentscheidungen, die in jeder Kultur tief verankert sind. Aus diesem Grund tendieren multikulturelle Gesellschaften zu einer Koexistenz von Rechtstraditionen, insbesondere in Bezug auf das Ehe- und Familienrecht. Wie diese Koexistenz organisiert wird, ist eine Frage, die für jede multikulturelle Gesellschaft individuell beantwortet werden muss. Muss im Hinblick auf den reduzierten Steuersatz von Ehepartnern nach schweizerischem Steuerrecht eine nach fremdländischen Grundsätzen gültige, religiös geschlossene Ehe für ihre Gültigkeit in das Eheregister des Schweizerischen Standesamts eingetragen werden? Sollte in diesem Fall die Ehegültigkeit nach ihren eigenen, religiös-spezifischen Regeln beurteilt werden? Sollte ein diesbezüglicher Entscheid eines fremdländischen Gerichts in der Schweiz anerkannt werden?
Kaum in einem anderen historischen Kontext können solche Phänomene so reich studiert werden wie am Beispiel des alten Ägypten. Das trockene Klima des Nillands hat uns zahlreiche Quellenzeugnisse auf Papyrus überliefert. Von diesen wurden bislang ca. 80'000 Fragmente ediert; rund eine Million weitere befinden sich in zahlreichen Museen und Universitätssammlungen auf der ganzen Welt verteilt – und warten auf ihre wissenschaftliche Bearbeitung. Diese Relikte bilden an sich nichts anderes, als ein kleines, erhaltenes Wunder der Antike, eine Zeitkapsel, aus der uns längst verstummte Stimmen widerhallen; von Reichen und Armen, von Frauen und Männern, von der einfachen Bevölkerung des Landes bis zu den erhabensten historischen Persönlichkeiten. Durch diese Dokumente erhalten wir einen Einblick, wie die Verwaltung des Landes tatsächlich agierte, blicken hinter den Vorhang auf Aspekte des alltäglichen Lebens der Bevölkerung, einschliesslich ihres Rechtslebens: Ihre Eheverbindungen, ihre Scheidungen, ihre Verfügungen von Todes wegen, ihre vertraglichen Abmachungen.
In Ägypten präsentiert sich uns ein perfektes Abbild an juristischen Akteuren, die durch eine multikulturelle Gesellschaft navigieren müssen. Allgemein tendierte in der Antike ein solcher Multikulturalismus dazu, juristische Folgen mit sich zu bringen. Das von Prof. Alonso im HS 2020 durchgeführte Seminar widmet sich den Wenigen, die in der römischen Provinz Ägypten das römische Bürgerrecht besassen. Anhand 12 ausgewählter Papyrusdossiers soll unter allfälliger Hinzuziehung römischer Rechtsquellen untersucht werden, inwieweit sich diese römischen Bürger, oft griechischer oder sogar einheimisch-ägyptischer Herkunft, tatsächlich an die römischrechtlichen Regeln hielten oder die eigenen lokalen Rechtstraditionen bevorzugten. Was verraten uns die Quellen über diese Personen und ihre gesellschaftliche Position? Wie wurden Familienbeziehungen und ihr Geschäftsalltag organisiert? All diese Untersuchungen werden uns einen Schritt näher bringen an die Beurteilung der Frage nach dem stillen Kampf zwischen den verschiedenen Rechtskulturen im römischen Reich bringen und uns zugleich erlauben, einen faszinierenden Blick auf das Alltagsleben ganz normaler Menschen in der Antike werfen zu können.
Die auf 12 Teilnehmer*innen beschränkte Veranstaltung steht sowohl Bachelor- als auch Masterstudierenden offen und findet am 27./28. November 2020 an der UZH statt.
Sowohl Primärquellen (und deren Übersetzung) als auch Literatur werden den Teilnehmenden zu ihren jeweiligen Themen vom Lehrstuhl zur Verfügung gestellt. Der Leistungsnachweis besteht wie üblich im Verfassen einer eigenständigen Arbeit (Bachelor / Master) im Umfang von 15-20 Seiten*, der Präsentation der Ergebnisse am Seminar und der aktiven Teilnahme am Seminargespräch. Die Ausgestaltung der schriftlichen Arbeit kann wahlweise auf Deutsch oder Englisch erfolgen.
Weitere Hinweise entnehmen Sie bitte dem unten angefügten Merkblatt zum Seminar HS20 (Download unter "Teilnahme und Info").
Wir freuen uns über Ihr Interesse und auf Ihre Anmeldung!
Liste von Dossiers:
Thema 1: [Darlehen, Banken, Zinsen] - Wucherer oder wohlwollender Kreditgeber? Das Dossier des Gaius Iulius Philios
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Dossiers untersucht die Geschäftsvorgänge des Gaius Iulius Philios, möglicherweise ein durch Augustus freigelassener Sklave der letzten Kleopatra. Insbesondere die durch ihn ausgestellten Darlehensurkunden enthalten neben interessanten Details zur Zinsbelastung Informationen über das alltägliche Leben bescheidener Familien, die zur Bewältigung ihres Lebens auf Kredite angewiesen sind.
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Thema 2: [Familienleben, Römisches Militär, Einbürgerung] - Ein römischer Legionärsveteran und seine Familie (Archiv des Lucius Pompeius Niger)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs erfährt tiefe Einblicke in das Leben eines römischen Legionärsveteranen und seine Geschäfte. Ausserdem erhalten wir durch die Dokumente Hinweise zum militärischen Entlassungs- und römischen Einbürgerungsverfahren.
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Thema 3: [Anschuldigungen, Diebstahl, schwarze Magie] - Der einäugige, blinde Militärveteran und seine alltäglichen Geschäfte (Archiv des Gemellus Horion)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs setzt sich neben allgemeinen Dokumenten zum Geschäftsverkehr mit Papyri auseinander, die das soziale Leben unter der damaligen Bevölkerung Ägyptens illustrieren. Dazu gehören neben Anschuldigungen der Betreibung schwarzer Magie auch Verurteilungen aufgrund von Diebstahl etc.
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Thema 4: [Armeedienst, Römisches Bürgerrecht] - Militärelite und ihre familiären Beziehungen (Archiv der Gaii Juli Sabines und Apollinarius)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses sowohl soziologisch als auch juristisch höchst interessanten Archivs beschäftigt sich mit den Dokumenten einer zur damaligen Zeit hochgradig elitären und wohlhabenden Familie. Die Dokumente erlauben einen einzigartig intimen Einblick in den Alltag eines Legionärs zu Beginn des 2. Jh. n. Chr., nicht nur bezüglich Militärs und Familiengeschäften (z.B. Verpachtung von Grundbesitz und Erwerb von Grundeigentum durch öffentliche Aktionen), sondern auch durch herzergreifende Briefe aus Rom an die in Ägypten verbliebene Verwandtschaft.
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Thema 5: [Grundeigentum, Steuern, Landwirtschaft] - Die Geschäfte des Grossgrundbesitzers Lucius Bellenius Gemellus
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs bearbeitet verschiedene Dokumente im Zusammenhang mit der Verwaltung von Grundeigentum. Dazu zählen neben Bezahlung an den eingebrachten Erträgen auch steuerrechtliche Aspekte und Informationen zur Bewirtschaftung von Äcker.
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Thema 6: [Alltagssorgen, Krankheit, Bitten um finanzielle Unterstützung] - Briefkonversation zwischen Vater und Sohn (Archiv des Claudius Tiberianus)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs erhält tiefe Einblicke in die Alltagssorgen des Marinesoldat Claudius Tiberianus. Der Sohn erzählt seiner Vater von seinen Expeditionen und bittet ihn neben der Nachsendung von den für sieben Dienst benötigten Utensilien um Geld. Durch das Archiv erhalten wir einen einzigartigen Einblick in die privaten Bedürfnisse der Zeit.
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Thema 7: [Stellung der Oberschicht, Zahlungsanweisung, Ackerbau] - Der Geschäftsalltag einer wohlhabenden Familie aus Oxyrhynchos (Archiv der Tiberi Iulii Theones)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs erhält Einblick in den Geschäftsalltag einer reichen Familie aus Oxyrynchos. Zu den Dokumenten zählen insbesondere Zahlungsanweisungen, Dokumente in Bezug auf die Pacht von Ackergrund und Angaben zu Transportkosten und -abwicklung von Getreide.
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Thema 8: [Pfandrecht, Verfahren, Stellung von Frauen, Vormundschaft] - Geschäfts- und Gesellschaftsleben einer römischen Frau in Ägypten (Archiv der Longinia Petronilla)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs, das neben Papyrusfragmenten auch aus Wachstafeln besteht, erhält einen Einblick in das geschäftliche und gesellschaftliche Leben einer römischen Frau in Ägypten. Neben amtlichen Schriftstücken über die Inbesitznahme (ἐμβαδεία) eines verpfändeten Grundstücks durch den Gläubiger enthält das Archiv Dokumente, welche eine Rekonstruktion des pfandrechtlichen Prozesses erlauben. Dazu gehört ebenfalls die Frage nach der Vormundschaft, sei dies über Petronilla oder über ihren Sohn Lucius Herennius.
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Thema 9: [Erbrecht, Römisches Bürgerrecht, Geburtsurkunden] - Archive als generationenübergreifender Familienschatz (Archiv des Marcus Lucretius Diogenes)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs untersucht ein Familienarchiv, welches zuletzt die Tochter von Marcus Lucretius Diogenes besass. Typisch für diese Art von generationen-übergreifende Archive, enthält auch dieses insbesondere erbrechtliche Dokumente oder Atteste über rechtlich relevante Vorgänge im Leben eines Menschen, wie Geburtsurkunden, Zertifikate, Steuerbescheinigungen, Pachtverträge und persönliche Briefe.
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Thema 10: [Verwahrung, Mitgift, Grundsückspacht, Erbe] - Das Archiv des Gaius Iulius Apollinarius
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs bearbeitet Eingaben und Verträge unterschiedlicher Art. Dazu gehören insbesondere Verträge zur Verwahrung (παραθήκη), Eingaben an die zuständige Behörde zur Regelung von erbrechtlichen Ansprüchen und Petition zur Heranziehung zu liturgischen Diensten. Das Archiv erlaubt einen weiten Einblick in familienrechtliche Angelegenheiten und die Teilnahme von Minderjährigen im Rechtsverkehr.
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Thema 11: [Verfahrensrecht, Militärveterane] - Bürgerrecht und Gerichtsprozess (Archiv des Aelius Sarapammon)
Dem Bearbeiter oder der Bearbeiterin dieses Archivs liegen 8 Texte vor, welche mehrheitlich die Rolle von Delius Sarapammon, einem ehemaligen Standartenträger der Lego II Traiana, in verschiedenen Verfahrensgängen behandeln. Damit erhalten wir einen Einblick in das Prozessrecht der Zeit, was wesentlich zum Verständnis der Rolle des Bürgerrechts in der Antike beiträgt.
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Thema 12: [Hypotheken, Erbrecht, Gütertausch] - Pfandrecht aus erster Hand (Archiv des Aurelius Tithoetion)
Der Bearbeiter oder die Bearbeiterin dieses Archivs erhält einen Einblick in pfandrechtliche Dokumente. Dazu zählen neben der Ausgestaltung von Darlehensverträgen insbesondere Urkunden betreffend Rückzahlungen und Bankbelege. Darüber hinaus enthält das Archiv eine Deklaration einer ererbten Hypothek eines Darlehens und Protokolle bezüglich eines Prozesses um die Erbteilung des verstorbenen Vaters.
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Leistungsnachweis:
Einzelheiten enthält das Merkblatt zum Seminar HS20.
Das Seminar steht sowohl Bachelor- als auch Masterstudierenden* zur Verfügung.
* Im Rahmen dieses Seminars kann auch eine Masterarbeit in grösserem Umfang verfasst werden. In diesem Falle benutzen Sie bitte die Anmeldemaske für Masterarbeiten, die Anzahl der geforderten Seiten für die entsprechenden ECTS entnehmen Sie bitte den Angaben in der Anmeldemaske.
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